A.S.H. Pelikan

(* Oktober 1953 in Duisburg) ist ein deutscher Musiker, Songwriter, Gitarrenlehrer und Schriftsteller. Pelikan gilt als einer der erfolglosesten Duisburger Autoren und Liedermacher der letzten 49 Jahre. Weltweit hat er 1006 Bücher und 677 CDs verkauft.
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Diese Webseite wurde als Idee im Jahr 2000 geboren (nachdem ich meinen ersten Computer mit Internetzugang bekommen hatte) und sollte ursprünglich nur das Beste meiner literarischen Bemühungen von 1971 bis zur Gegenwart präsentieren. Also ließ ich mir den Domain-Namen dafür sichern … und dann geschah lange Zeit nichts mehr.

Bis ich 2009/2010 in meinem zweiten und dritten CD-Booklet den Satz stehen hatte, daß die Songtexte unter www.ashpelikan.de einzusehen wären. Da die Seite damals aber immer noch nicht existierte, dachte ich, das nun endlich mal ändern zu sollen und fragte meinen Bookletdesigner Mani Wollner, wer denn eigentlich seine Seite eingerichtet habe. Antwort: er selber – und 48 Stunden später war die erste Pelikanesische Homepageversion (damals nichts weiter als 20 Songtexte beinhaltend) dann bereits online. Und seitdem hat sich diese Seite Schritt für Schritt weiterentwickelt zu etwas, das mit dem ursprünglichen 2000er-Plan überhaupt nichts mehr zu tun hat. So kann’s gehen…

Hinweis: Fast alle Fotos sind durch Anklicken vergrößerbar.


Das aufgeräumte Wort zum Sonntag

[Die neue Rubrik des Jahres 2023. An jedem Samstag eine neue Folge.]

21)  aacdefhilnnrsttw
(Tip: Hat mit Jahreszeiten zu tun.)

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[Die bereits dechiffrierten Wörter zum Sonntag:]

01)  pfiffig (fffgiip)
02)  Kladderadatsch (aaacdddehklrst)
03)  Schatzsuche (accehhsstuz)
04)  Paralleluniversen (aaeeeilllnnprrsuv)
05)  sondergleichen (cdeeeghilnnors)  [Ein Rätselrater hat „Schneiderlogen“ herausbekommen.]
06)  dechiffriert (cdeeffhiirrt)
07)  Autonummernschilderwörter
(acdeeehilmmnnoörrrrsttuuw)
08)  unannehmbar (aabehmnnnru)
09)  MOPF (fmop)  [= mein Lieblingsautonummernschilderwort]
10)  Beinaheküsse (abeeehiknssü)
11)  Tagundnachtgleiche (aaccdeegghhilnnttu)
12)  Lesesessel (eeeellssss)
13)  nigelnagelneu (aeeeggillnnnu)
14)  Dschungelpfade (acddeefghlnpsu)
15)  Wirrwarr (airrrrww)
16)  Annäherungen (aäeeghnnnnru)
17)  Loevenanteil (aeeeillnnotv)  [Gruß an Helmut]
18)  Frühlingsgefühle (eeffgghhillnrsüü)
19)  Sommerliebelei (beeeeiillmmors)
20)  Herbstzeitlose (beeehilorssttz)

 


Alles klar!

Anfang Februar 2023

Liebe Leute,
nach dem „Akkord des Monats“ (2021) und dem „Satz der Woche“ (2022) erscheint in diesem Jahr hier ja samstäglich das „aufgeräumte Wort zum Sonntag“, so daß – nach den pelikanesischen Ein-Jahres-Regeln – eine weitere Rubrik ähnlicher Art erst in 11 Monaten zum Zuge kommen dürfte. Doch will ich bei dem, was ich kürzlich (auf dem Klo – hab da immer „Literatur“ herumliegen [für den Kopf, wohlgemerkt, obwohl die manchmal auch wirklich für’n Arsch ist]) gelesen habe und gerne mit euch teilen möchte, nicht so lange warten. Deshalb also jetzt schon die aktuelle „Erklärung der Stunde“ oder so. Entnommen dem im April 1969 erschienen Perry-Rhodan-Heft # 396, „Das Versteck in der Zukunft“, von Clark Darlton:

xxxxx„Wollen Sie auch noch etwas über das System an sich wissen, Sir?“
xxxxx„Bitte“.
xxxxx„Dreizehn Planeten umkreisen den Giganten, von mir aus auch Monde, wenn Sie wollen. Und zwar alle in einem Abstand von anderthalb Millionen Kilometern. Sie bilden somit einen Ring um einen Mutterplaneten. Alle erhalten Licht und Wärme von der blauen Sonne. Diese Sonne, wie wir sie sehen, ist fünf Minuten alt, wenn man von der Zeitdifferenz absieht, die das Licht für seine Reise benötigt. Der Planet und seine Monde jedoch halten sich fünf Minuten in der Zukunft auf. Die Sonne muß sich in der Vergangenheit – von uns aus betrachtet – aufhalten, damit sie die Energie für den Zeitversetzer spenden kann. Wäre sie in der Zukunft, könnte das nicht möglich sein. Aber auch der Zeittransmitter unterliegt diesen Naturgesetzen. Er ist jetzt fünf Minuten in der Zukunft vorhanden, aber er arbeitet in der Vergangenheit. Da er jedoch in der Vergangenheit existiert, als anorganische Materie, existiert er auch in unserer fünf Minuten alten Zukunft, ebenfalls um fünf Minuten älter. […]“

Alles klar!
Oder?


Keith Richards hat Geburtstag

In einem Interview für eine Film-Doku sagte Keith Richards mal:
xxxxx„Das Leben ist schon ’ne komische Sache: Niemand möchte alt sein, aber jung sterben will auch keiner.“
Und schloß mit:
xxxxx„Man muß diesen Weg nun mal zu Ende gehen.“

Am heutigen 18. Dezember wird Keith Richards 79 Jahre alt.
Herzlichen Glückwunsch und alles Gute!


Der (Frage-und-Antwort-)Satz der Woche (# 14 / KW 50)

Und im Küchentrakt? Auch dort regiert die Leidenschaft, und Herzen werden erobert und gebrochen.

Aus dem DVD-Klappentext von „Downton Abbey“, Staffel 4, 2014


Der Satz der Woche (# 13 / KW 48)

Es traf sich gut, daß er seine Gibson-Gitarre nicht mehr brauchte, denn offensichtlich hatte jemand sie benutzt, um ihm den Schädel einzuschlagen.

Kinky Friedman, „Lone Star“, 1987
xxxxx[Deutsch von Hans-Michael Bock]


Die Geschichte meines fast zustande gekommenen 50-Jahre-Bühnenjubiläums

18. November 2022

Liebe Leute!
Heute vor 10 Jahren hätte im Grammatikoff (vormals Hundertmeister) ein Konzert aus Anlaß meines 40-Jahre-Bühnenjubiläums stattfinden sollen. Und als besonderen Gag wollte ich an dem Abend auch schon Eintrittskarten für das 50-Jahre-Bühnenjubiläum an den Fan bringen:

Die Karte hätte dann genau 1 € gekostet.

Aber nur an diesem Abend, weil der Preis am folgenden Tag schon auf 2 € gestiegen wäre, was imerhin Gültigkeit bis zum Jahresende gehabt hätte. Ab dem 1. Januar (2013) sollte die Karte dann für 3 € über den Vorverkaufsladentisch gehen, am folgenden 1. Januar nur noch für 4 € zu erwerben sein und auch in den kommenden Jahren um jeweils 1 € teurer werden, bis man im Jubiläumsjahr (2022) bei 12 € angelangt wäre und dem (sämtliche Ermäßigungschancen nicht wahrgenommen habenden) späten Gast an der Abendkasse 13 € abknüpfen würde. So hat zumindest der damalige Plan ausgesehen.

Und falls ihr nun der Meinung wärt: „So was Verrücktes hat sich auch nur der Pelikan ausdenken können“ – weit gefehlt, denn die Idee stammt von Sebastian Schwenk, der vor 10 Jahren für das Programm von Steinbruch und Grammatikoff verantwortlich war (und heute eine eigene Veranstaltungsagentur betreibt: Monochromat Booking). Seb hatte diesen schrägen Gedanken in unserem ersten Konzertplanungsgespräch einfach mal scherzhaft eingeworfen, was ich sogleich begeistert aufgegriffen habe, so daß wir dann ernsthaft darüber zu diskutieren begannen und schließlich beschlossen, das Ganze – ungeachtet der vielen Unwägbarkeiten und sich möglicherweise ergebenden Probleme –  tatsächlich durchzuziehen. [Hat eigentlich schon mal jemand von einer anderen Veranstaltung gehört, die solch einen langen Vorverkaufslauf gehabt hat?]

Worüber wir uns damals Gedanken gemacht hatten:
– Was wäre, wenn der ein Jahr vor dem Jubiläums-Termin auslaufende Pachtvertrag fürs Grammatikoff nicht verlängert werden und ein neuer Pächter kein Interesse an unserer Veranstaltung zeigen würde? Dann würde Seb sich nach einem alternativen Veranstaltungsort umsehen und das Ergebnis rechtzeitig vorher in Presse und sozialen Medien verkünden lassen müssen.
– Was wäre, wenn Pelikan dann gar nicht mehr am Leben wäre? Dann würden die Kartenbesitzer halt einfach Pech gehabt haben.
– Was wäre, wenn Pelikan in 10 Jahren gar nicht mehr Gitarre spielen könnte/wollte? Nun, strenggenommen hätte ich ja gar kein Konzert versprochen, sondern nur einen Bühnenjubiläumsauftritt
xxxxx[das ist allerdings unser einziger gravierender Fehler gewesen: daß auf der Eintrittskarte (siehe oben) Pelikan mit Gitarre abgebildet war und dadurch automatisch bestimmte Erwartungen geweckt würden],
xxxxxbei dem nur mein persönliches Erscheinen auf eben einer Bühne Pflicht gewesen wäre – mit zur Not auch im Rollstuhl sitzend darauf geschoben werden müssen.
xxxxx– Ich würde beispielsweise also auch (nur) eine Lesung machen können.
xxxxx– Oder live an einem Tisch auf der Bühne eine Partie Schach mit meinem Freund Otz spielen.
xxxxx– Oder ungefähr folgende Ansage machen: „Unglaublich, nach 50 Jahren immer noch auf einer Bühne zu stehen. Und obwohl ich mittlerweile gar keine Musik mehr mache, soll der heutige Abend doch nicht ohne Gitarrespielen und Singen auskommen. Und so bitte ich euch jetzt um einen herzlichen Willkommensapplaus für einen Duisburger Künstler, der euch in den nächsten anderthalb Stunden unterhalten wird, bedanke mich noch einmal ganz herzlich für euer Kommen und wünsch‘ euch nun viel Spaß bei Pelikans Bühnenjubiläum mit Jupp Götz!“ [Denn daß Jupp bei so was mitmachen würde, hielte ich auch heute noch für sehr gut möglich.]

Aber wie auch immer eine Pelikan-spielt-überhaupt-nicht-Gitarre-und-enttäuscht-deshalb-bestimmte-Erwartungen-Veranstaltung aussehen würde, sollte es doch wohl zu verkraften sein, den Betrag von 1 € (oder auch etwas mehr) in den Sand gesetzt zu haben, während man sich als „Gegenleistung“ (im Optimalfall) 10 Jahre lang an einer richtig schön-schrägen Idee hatte erfreuen können, oder? Und selbst die geringe Aussicht, von einem (oder mehreren) Kartenbesitzer(n) ob eines 2022 dann doch nicht (oder nicht wie erwartet) stattfindenden Auftritts oder Konzerts verklagt zu werden, hatte Seb und mich nicht davon abbringen können, unseren verrückten Plan fortzuführen.

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Weil ich den obigen Teil der Geschichte aber nur in der So-war’s-gedacht-gewesen-Form erzählt habe, muß irgendwo dann wohl doch mal etwas schiefgelaufen sein … und zwar am 13. 11. 2012 bei der letzten Probe für das 5 Tage später stattfinden sollende 40-Jahre-Bühnenjubiläumskonzert.

Ich hatte extra für diesen Abend eine kleine Band zusammengestellt – „A.S.H. Pelikan and the Penguins of Pop“ -, bestehend aus Tom Dudda (Baß), Rolf Maibaum (Gitarre), Andreas Köhne (Schlagzeug), Georg Mahr (Keyboards) und mir selbst an der akustischen Rhythmusgitarre. Und als besondere Gäste waren Stefan Nern (Gitarre, Mandoline), Jupp Götz (Gesang, Gitarre) und – last but not least – Anja Lerch (Gesang) mit an Bord. Und auf der Generalprobe, bei der erstmals auch Jupp und Anja zugegen waren, habe ich mich [um der von mir hochgeschätzten Anja Lerch (die mich vorher noch nie als Musiker erlebt hatte) nicht das Gefühl zu geben, ihre Auftrittszusage schon vor dem Konzert bereuen zu müssen oder so] besonders angestrengt und mal so richtig ins Zeug gelegt und es „Rockröhren“-gesangsmäßig dabei wohl doch etwas übertrieben, so daß ich am Auftrittstag keinen vernünftigen Ton mehr herausbekam und mein großes Jubiläumskonzert ganz kurzfristig noch absagen mußte. [Einem Profi wäre das nicht passiert!]

Meine totale Heiserkeit hat sich dann als Stimmbandüberdehnung herausgestellt, was mich dazu zwang, (a) sämtliche VHS-Gitarrenkurse bis zum Semesterende ersatzlos ausfallen zu lassen (da ich auf ärztliche Anweisung hin in den kommenden Wochen weder richtig sprechen, geschweige denn singen durfte) und (b) sogar „Sprechunterricht“ bei einem Logopäden zu nehmen. Und als es so weit war, daß ich in absehbarer Zeit wieder würde singen können [lediglich mein in vielen Jahren gezüchteter gequetschter „Rockröhrenklang“ war inwiederbringlich dahin], wußte ich nicht einmal, ob ich ein Nachholkonzert überhaupt noch geben wollte – doch Anja überzeugte mich dankenswerterweise davon, auch an meine „Fans“ zu denken und sie nicht böse zu enttäuschen.

Es gab allerdings noch 3 Problemchen:
xxxxx1. So sehr wir uns auch bemühten: es ließ sich vor Herbst 2013 [was mir allerdings zu spät war] absolut kein Termin finden, an dem alle Musiker erneut zur Verfügung gestanden hätten, so daß (wiederum auf Anregung von Anja) beim Nachholkonzert mit leicht veränderter Band-Besetzung gearbeitet werden mußte.
xxxxx2. Der Zeitpunkt für mein 40-Jahre-Jubiläum war definitiv vorüber, was mich zuerst vor ein unlösbares Problem zu stellen schien, bis ich den kleinen Einfall hatte, den für Mai 2013 neuangesetzten Auftritt einfach in „Pelikans 40,5-Jahre-Bühnenjubiläum“ umzubenennen.
xxxxx3. Und wegen dieser Verschiebung um rund ein halbes Jahr waren leider auch die 1- und 2-€-Vorverkaufsmöglichkeiten auf den Eintrittskarten fürs 50-Jahre-Jubiläum vollständig weggefallen, und auch der besondere Gag des am Konzertabend bereits „Karten für einen Auftritt in (auf den Tag genau) 10 Jahren“ erstehen zu können war total verpufft. Und so entschloß ich mich, die Sache mit dem 50-Jahre-Jubiläum erst mal zu vergessen und die 1000 gedruckten Eintrittskarten einfach ungenutzt vermodern zu lassen.

So daß kein Mensch am heutigen 18. November 2022 von mir einen öffentlichen Auftritt erwarten würde. Nur ich selbst habe diesen Termin (als Statistiker) natürlich nicht komplett aus den Augen verloren, und so machte ich mich vor einem Monat daran, die ungewöhnliche Geschichte eines nicht stattfindenden Bühnenjubiläums (für meine Webseite) niederzuschreiben.

Aber was wäre denn nun gewesen, wenn ich meine Stimme bei der Generalprobe vor 10 Jahren nicht runiniert hätte? Dann würden wir (Seb und ich) uns in diesem Jahr mit Folgendem konfrontiert gesehen haben.
xxxxxA) Der Pachtvertrag für das Grammatikoff ist schon längst ausgelaufen und der neue Pächter mit seiner Umbau-Renovierung noch nicht fertig, so daß an dem vor 10 Jahren verkündeten Ort derzeit überhaupt keine Veranstaltung durchgeführt werden kann.
xxxxxB) Pelikan ist nach seinem (wirklich schönen und würdig eine Karriere feiernden) Jubiläum vor 9,5 Jahren eigentlich schon in den Musikerruhestand getreten, hat danach nur ganz selten mal noch ein oder zwei Lieder als Gast bei einem Auftritt oder Geburtstag oder einer Beerdigung vorgetragen, und da auch meine Gitarrenkurse nicht mehr existieren [sind 2020 wegen Corona aufgegeben worden] und ich auch sonst überhaupt nicht mehr Gitarre spiele [habe mich inzwischen ganz aufs Schreiben verlegt], bin ich fingerfertigkeitsmäßig überhaupt nicht mehr in der Lage, ein abendfüllendes Konzert zu geben, das sowohl Künstler als auch Publikum befriedigen würde.
xxxxxSo gesehen ist es also gar nicht schlecht gewesen, die damalige Idee des heutigen 50-Jahre-Bühnenjubiläumsauftritts schon lange ad acta gelegt zu haben. [Wie sagte Anja nach dem abgesagten Konzerttermin mal?: „Wer weiß, wozu es gut war.“]

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Aber die Bühnenjubiläums-Geschichte ist auch hier noch nicht zu Ende, denn während der Arbeit an diesem Textbeitrag kam mir plötzlich der Gedanke, daß ich mich am 18. November gegen 20:00 Uhr ja auch einfach auf die Straße vors ehemalige Grammatikoff stellen und den Song „Schlechte Karten“ [weil der gitarrenspieltechnisch so einfach ist, daß ich den auch heute noch sehr ordentlich hinbekomme] spielen könnte, egal ob von den zufällig vorbeikommenden Passanten jemand stehenbleiben und zuhören würde oder nicht; um das Ganze anschließend als Auftritt zu werten und mein 50-Jahre-Bühnenjubiläum (wenn auch ohne richtige Bühne – aber die hat es beim allerersten Auftritt schließlich auch nicht gegeben!) somit doch noch begangen zu haben. Aber was, wenn es an dem Abend regnen würde?
xxxxxUnd so schrieb ich einen Brief an Seb (den ich seit vielen Jahren nicht mehr gesehen oder gesprochen hatte), schilderte ihm die Lage und fragte, ob er für den Schlechtwetterfall vielleicht eine Alternative wüßte? Und ein paar Tage später – am 27. Oktober – rief er mich an, und es zeigte sich, daß er (ganz wie in alten Zeiten) vor Ideen nur so übersprudelte und mich sogleich zu ungeahnten Gedankengängen inspirierte, die darin gipfelten, daß ich knapp fünf Minuten später aus zwei seiner spontanen Vorschläge das Konzept für eine doch noch abendfüllende Veranstaltung zu meinem Bühnenjubiläum entwickelte. Und das sah [weil ich als Gitarrenspieler selbst mit dreiwöchigem Üben (nach spätestens zwei Tagen müßte ich ohnehin erst mal länger pausieren, weil meine seit Jahren hornhautlosen Finger mir dann bei jedem die Saiten herunterdrücken nur noch mörderisch weh täten) nichts wirklich Tolles mehr hinbekommen würde] so aus, daß ich einfach vortragsmäßig aus meinem Leben erzählen und die wichtigsten Stationen meiner Musikerkarriere beleuchten und zur Auflockerung noch ein paar thematisch passende Pelikan-Songs von CD erklingen lassen wollte, um zum „krönenden“ Abschluß dann doch einmal zur Gitarre zu greifen und „Schlechte Karten“ vorzutragen.
xxxxxUnd Seb sind auch gleich mehrere mögliche Auftrittsorte in den Sinn gekommen, von denen ich mir eine halbe Stunde später bereits den nächstgelegenen (nur 10 Fuß-Minuten von meiner Wohnung entfernt) angesehen und in Erfahrung gebracht habe, daß der 18. November dort noch veranstaltungsfrei war. Und dann bin ich nach Hause gegangen und habe mich umgehend auf die Suche nach erzählenswertem pelikanesischen Musikergeschichten-Material und passenden CD-Songs gemacht, und drei Stunden später war ich immer noch mit solch großer Begeisterung bei der Sache, daß ich den Seb anrief und ihm mitteilte, daß ich den Auftritt machen wollte und ihn bat, sich in dem von mir angesehenen Laden mal nach den Bedingungen für eine Veranstaltung in drei Wochen und einem Tag zu erkundigen.

Am nächsten Tag bekam ich dann die Info über die Raummiete in Höhe von 320 € plus Mehrwertsteuer, was mich doch erst mal ziemlich schlucken ließ, weil ich mit so viel [aber ich bin ja auch seit ewigen Zeiten schon nicht mehr auf der Höhe der aktuellen Preise] nun wirklich nicht gerechnet hatte, und was mir auch deshalb ein wenig Bauchschmerzen bereitete, weil ich am Vortag bereits Sebs Vorschlag von freiem Eintritt mit herumgehendem Hut zugestimmt hatte. Aber dann sagte ich mir, daß ich mir auch eine Veranstaltung, bei der ich draufzahlen müßte, aktuell locker leisten können würde, so daß ich mein Okay dazu gab und der Raum für den 18. November reserviert wurde. Und danach setzte eine Entwicklung ein, mit der ich absolut nicht gerechnet hatte und in dessen Verlauf meine kleinen Bauchschmerzen und Bedenken und Sorgen von Stunde zu Stunde größer wurden und mir einen überhaupt nicht mehr schönen Abend sowie eine extrem schlechte Nacht bescherten.
xxxxxWoran ich in meiner ersten Auftritts-Euphorie nämlich überhaupt nicht gedacht hatte, war die Corona-Sache. Ich bin diesbezüglich wirklich SEHR ängstlich und wäre nie auf die Idee gekommen, freiwillig (als Zuschauer) zu solch einer Veranstaltung wie Pelikans Bühnenjubiläum zu gehen. Und jetzt würde ich plötzlich einen ganzen Abend dort zubringen und natürlich auch damit rechnen müssen, vor und nach dem Vortrag von einigen Leuten angesprochen zu werden, die ich (und die mich) seit Jahren nicht mehr gesehen hatte(n). Und wie sollte ich mich dann dabei verhalten? Ständig (und womöglich sogar als einziger im Raum?) nur mit Maske rumlaufen? Dabei würde ich mich, meine große Ängstlichkeit demonstrierend, bestimmt auch nicht richtig wohlfühlen – ohne Maske allerdings erst recht nicht, weil ich mich dann nur auf der Flucht befände: physisch vor zuviel Nähe, und psychisch vor der ständig gegenwärtigen Angst einer möglichen Ansteckung. So daß der Corona-Problem-Gedanke meiner Vorfreude auf diesen Abend dann schon einen ersten gewaltigen Dämpfer versetzte.
xxxxxUnd weiter ging’s mit der sich ebenfalls langsam in den Vordergrund drängenden Frage, ob ein solcher „Vortrag mit Musik nur vom Band“ überhaupt jubiläumswürdig und nicht doch eher nur enttäuschend sei? Würden denn nicht eigentlich alle Zuhörer (selbst wenn sie das „Kleingedruckte“ in der Ankündigung gelesen hätten) viel lieber Pelikan live zur Gitarre hören wollen? So, wie sie es vier Jahrzehnte lang bei Auftritten von mir gewohnt gewesen sind? Allerdings nur bis vor 9,5 Jahren – so daß ich ohne dieses 50-Jahre-Datum überhaupt nicht auf die Idee gekommen wäre, mal wieder auf eine Bühne zu treten, und erst recht nicht mit einem simplen Vortrag, der als Jubiläumsfeier eines Livemusikers (der diese Tätigkeit seit fast 10 Jahren schon nicht mehr ausübte) doch nur als Mogelpackung gelten dürfte, oder?
xxxxx Und als mir dann auch noch bewußt wurde, daß ich sogar im Zweifel war, ob ich für diesen Pelikan-Auftritt überhaupt eigene Reklame (auf meiner Webseite und per E-Mail an meine Freunde und Bekannten) machen sollte [denn je weniger Leute bei dem Auftritt anwesend sein würden, desto geringer fiele sowohl das Corona-Ansteckungsrisiko als auch die Möglichkeit aus, viele Zuhörer mit dem Dargebotenen zu enttäuschen], kam endgültig das Gefühl auf, daß mit dieser Sache irgend etwas ganz und gar nicht stimmen würde. Zumal die Einnahmen sich bei weniger Besuchern ja auch verringern und meine Unkosten dadurch nur steigen lassen würden. Und auch bei dem Gedanken, am Schluß mit einem Hut herumgehen und die Leute auf recht manipulative Weise „anbetteln“ zu müssen, fühlte ich mich alles andere als wohl. Und so wünschte ich mir eigentlich nur noch, daß bereits alles vorüber wäre – und die Aussicht, meine „bad vibrations“ noch drei weitere Wochen lang mit mir herumschleppen und ertragen zu müssen, schien mir auch mehr einer Strafe als der Vorfreude eines Künstlers auf einen anstehenden Auftritt gleichzukommen … so daß es das einzig Vernünftige war, Seb am nächsten Mittag darüber zu informieren, daß ich meine Meinung geändert hätte und die Veranstaltung doch nicht machen könne/wolle – egal, welche Kosten dadurch noch für mich entstehen würden. Aber Seb meinte nur: „Okay, kein Problem.“ Und als das Telefonat beendet war, habe ich tatsächlich physisch zu spüren geglaubt, wie mir ein ungeheuer schwerer Stein vom Herzen gefallen ist; und auch in den folgenden Tagen habe ich diese Entscheidung, doch nicht noch einmal (mit 69 Jahren) vor Publikum aufzutreten, nicht eine Sekunde lang bereut.

In dem Buch „Mark Twain bummelt durch Europa“ erzählte der Autor mal, wie er in Deutschland zu einem Konzert von einem hochgelobten Tenor mitgenommen worden sei, sich nach einer Weile an seinen Gastgeber gewandt und ihm zugeraunt hätte, daß er den Sänger eigentlich überhaupt nicht toll fände. „Ja, stimmt schon“, kam die Antwort, „aber Sie hätten den mal vor 20 Jahren hören sollen!“

Und so weit wollte ich es dann lieber doch nicht kommen lassen.

Und das ist also die Geschichte meines fast zustande gekommenen 50-Jahre-Bühnenjubiläums gewesen. Aber wer weiß, vielleicht sieht man sich ja in weniger gesundheitsschwierigen Zeiten noch mal auf einer Lesung oder so, wenn ich mein neues Buch (hoffentlich) beendet und herausgebracht haben werde. Bis dahin macht’s gut, bleibt mir gewogen und paßt gut auf euch auf.
xxxxxEuer Pelikan


Was euch in meinem neuen Buch erspart bleiben wird! (Teil 1)

[Die nachfolgende Anekdote ist ein (nirgendwo richtig reinpassen wollender) Outtake meines in Arbeit befindlichen Buches „In Ermangelung eines aldebaranischen Sternenhimmels“.]

Als mein Vater, ein ehemaliger Lehrer, schon länger pensioniert war, erzählte er eines Tages, daß er neulich auf der Straße gegrüßt worden sei, und weil es ihm wohl anzusehen gewesen wäre, daß er nicht wußte, wer das genau war, hätte sein Gegenüber erklärt: „Aber Herr Pelikan, kennen Sie mich denn nicht mehr? Ich hab doch früher bei Sie Deutsch gehabt.“ *

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* Willi Lippens (der am heutigen 10. November 2022 seinen 77. Geburtstag begeht) winkt und läßt grüßen.


Rantanplan

Welcher Comicfan meiner Generation kennt ihn nicht, den treudooftrotteligen Gefängniswachhund Rantanplan, den der französische Comicautor René Goscinny [ebenjener, der auch Asterix und Der kleine Nick erfunden hat] 1960 ins 14 Jahre zuvor vom belgischen Comiczeichner Morris gestartete Lucky-Luke-Universum eingeführt hat, und der [der Hund, nicht der Autor] 25 Jahre später sogar eine eigene Serie bekam. In Deutschland sind die LL-Abenteuer ab Mitte der 1960er Jahre in Fortsetzungen in den (von Rolf Kauka seit 1953 herausgegebenen) „Fix und Foxi“-Heften erschienen, und auch wenn ich als Junge kein ausgesprochener Fan davon gewesen bin, habe ich mir im neuen Jahrtausend – um meine damals kaum aus mehr als Asterix bestehende Comic-Sammlung zu erweitern – noch ein Dutzend Bände der Lucky-Luke-Gesamtausgabe zugelegt.

Und während der sich anschließenden ersten LL-Lektüre seit rund 30 Jahren hat sich dann langsam aber sicher eine bestimmte Frage aufgedrängt: „Wie spricht man den Namen des Hundes eigentlich korrekt aus?“ Bei Lucky Luke, Jolly Jumper und den Daltons schien es keinen Zweifel an der Aussprache zu geben: englisch halt, doch sah Rantanplan eigentlich nicht wie ein englisches Wort aus, so daß ich es deshalb erst mal deutsch ausgesprochen hatte, was allerdings nicht besonders leicht von der Zunge gehen wollte. Und weil Lucky Luke ja ein im Original in französischer Sprache erschienener Comic war, probierte ich irgendwann auch mal Rõ:-tõ:-plõ: aus, was sich schon viel besser anhörte. Doch fand ich auch daran noch einen Haken: weil die Lucky-Luke-Geschichten ja im Wilden Westen der USA spielen, wo doch [siehe die Namen der anderen Figuren] vor allem englisch gesprochen wurde, oder? Und so ging ich schließlich auch noch zur englischen Artikulation über … und mußte sofort grinsen, weil der Hundename dann nämlich so klang, als wenn sich ein Ausländer mit amerikanischem Akzent an dem deutschen Wort „Rentenplan“ versucht hätte.

Das war zwar recht lustig, brachte mich der Antwort zur richtigen Aussprache aber immer noch keinen Zungenschlag näher. Bis ich auf den Gedanken kam, daß Rantanplan möglicherweise gar nicht der von Goscinny erdachte Originalname gewesen sei. Denn so was hatte es ja auch vorher schon gegeben: Tim und Struppi zum Beispiel haben in Wirklichkeit ganz anders geheißen, nämlich Tintin und Milou.

Also begab ich mich im Internet auf Informationssuche und erfuhr dabei, daß Ran-tan-plan (wie die allererste Schreibweise wohl gelautet hatte) als das doofe Gegenstück zum cleveren Rin Tin Tin konzipiert worden war.

xxxxx[Kleiner Exkurs:
Vor genau 100 Jahren ist in Amerika der erste von mehr als zwei Dutzend Rin-Tin-Tin-Kinofilmen der 1920er und frühen -30er Jahre über die Leinwand geflackert, worauf in den 1950er Jahren noch die Fernsehserie „The Adventures of Rin Tin Tin“ folgte, die es auf stolze 164 Folgen gebracht hat. Und dies ist auch die allererste TV-Serie gewesen, die im deutschen Fernsehen ausgestrahlt wurde, mit allerdings nur 20 Folgen zwischen 1956 und ’64, von denen ich viele gesehen haben dürfte, da meine Eltern schon sehr früh (ab 1958 oder ’59) ein Fernsehgerät besessen hatten. Und ich fand Rin Tin Tin (nebenbei bemerkt) auch um Längen besser als Lassie (obwohl doch nicht ganz so toll wie Fury / aber durchaus konkurrenzfähig zu Flipper). Und so viel in Kürze zu „Wer war Rin Tin Tin?“ – und nun zurück zu Rantanplan.]

Und als ich mich schon schmunzelnd damit angefreundet hatte, daß das deutsche Wort „Rentenplan“ in vielen amerikanischen Haushalten mit Comics lesenden Kindern ein klanglich üblicher, wenn auch bedeutungsmäßig ganz anderer Begriff gewesen sei, brachte meine Recherche leider ernüchternd zutage, daß Rantanplan in englischen Ausgaben gar nicht Rantanplan, sondern Rin-Tin-Can geheißen hat. Was ich tatsächlich ziemlich schade fand, um nicht zu sagen: echt doof.

Aber ich kann immerhin noch froh sein, daß Hergé (der Tim-und-Struppi-Autor) seinen Reporter, und nicht den Hund, Tintin genannt hat, denn wenn es anders herum gewesen wäre, hätten die pelikanesischen Gedankengänge bestimmt auch noch die Verbindung zwischen Tintin und Rin Tin Tin herzustellen versucht und weitere große Rätsel gewittert.

Doch ist die eingangs gestellte Frage nach der korrekten Aussprache von Rantanplan leider immer noch unbeantwortet geblieben, und Goszinny und Morris, die es ja gewußt haben müssen, kann man leider auch nicht mehr fragen. Und so weiß ich also immer noch nicht, wie ich besagten Namen beim Lucky-Luke-Lesen aussprechen soll: Ranntannplan? Rõ:-tõ:-plõ:? Oder Ränntännplähn? Wie haltet ihr das denn?

P.S.: Und wenn ich die Pointe damit nicht schon angedeutet haben würde, hätte ich diesen Beitrag wohl „Lucky Lukes Rentenplan“ betitelt.


In Gedenken an René Goscinny, der heute (5. November) vor 45 Jahren gestorben ist.


Der Satz der Woche (# 12 / KW 42)

In den 1970er Jahren, in denen es mir häufiger passiert ist, wegen meiner langen Haare verbal angegriffen zu werden, ging ich auf der Straße mal in Richtung eines Hauses, auf dem Dachdecker arbeiteten, als einer von ihnen mich erblickte und ausrief:
…..„Ey, Jungs, holt die Nägel, da kommt Jesus!“
Für eine schlagfertige Antwort in der Art von „Hi, Judas, lange nicht mehr gesehen“ oder so, bin ich damals leider nicht cool genug gewesen.


Der Satz der Woche (# 11 / KW 40)

„Fick Rick“, schlug Anita vor, Quick Mick und Sick Dick gnadenlos ausmusternd.

A.S.H. Pelikan, „In Ermangelung eines aldebaranischen Sternenhimmels“ [noch nicht erschienen]

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Und weil das (seit 2018 in Arbeit befindliche) Sternenhimmel-Werk durchaus als Fortsetzung von „Herzlichen Glückwunsch“, dem in dieser Woche vor genau 40 Jahren erschienenen letzten Pelikan-Buch, gedacht ist, wollte ich dessen rundes Jubiläum zum Anlaß nehmen, um
xxxxxa) darauf hinzuweisen, daß literarisch von mir noch etwas zu erwarten sein wird, und
xxxxxb) mit obigem Satz schon mal einen kleinen Vorgeschmack darauf geben.

Dann bis die Tage, und bleibt gesund.
Euer Pelikan


Der Satz der Woche (# 10 / KW 38)

Es war Jugendzeit im umgekehrten Sinne, auf den Kopf gestellt: der Jüngling, er selbst jungfräulich und – wer weiß – vielleicht um so mehr, gleichzeitig angezogen und entsetzt vor dem, was ihn anzieht, denkt sich mit Hilfe von unbeholfenen und furchtsamen Kniffen die zufälligen Begegnungen aus, bei denen er immer noch nicht und nie ganz berühren wird, nicht einmal hoffen wird, zu berühren, nicht wirklich berühren will, ja, zu entsetzt, um zu berühren; sondern nur, um die gleiche Luft zu atmen, umspült von der gleichen Atmosphäre, die der Herrin sich regende Glieder umspült hat; dem der Handschuh oder das Taschentuch, von dem sie nicht einmal weiß, daß sie sie verloren, die Blume, von der sie nicht einmal weiß, daß sie sie zertreten hat, dem sogar das Neunt- oder Zehntkläßler-Algebra- oder Grammatik- oder Geographiebuch, das ihren Namen in ihrer eigenen zaubrischen Handschrift auf dem Vorsatzblatt trägt, schrecklicher ist und ergreifender als jemals später der Schimmer ihrer nackten Schulter oder die Flut ihres offenen Haares auf dem benachbarten Kopfkissen.

William Faulkner, „Die Stadt“, 1958
xxxxx[Aus dem Amerikanischen von Elisabeth Schnack]

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In dieser Woche jährt sich der Geburtstag von William Faulkner zum 125sten Mal.


Outtake: Der (ursprüngliche) Akkord des Monats September 2021

1. September 2022

Nachfolgender Akkord-des-Monats-Beitrag hätte vor genau einem Jahr veröffentlicht werden sollen. Ein paar Monate zuvor (der Artikel war bereits fertig und harrte nur noch seines Veröffentlichungstermins) hatte ich allerdings die Idee, den besonderen Gag des Mehrere-Griffe-zu-einem-einzigen-Akkord-Zusammenzufassens doch besser zum krönenden Abschluß der Serie als „Akkord des Jahres“ zu verwenden, der alle  Töne der bisherigen Griffe zu einem Monster-Akkord zusammenfassen sollte. Und so wurde der September-Beitrag also wieder rausgeschmissen und durch einen anderen Text (mit anderem Griff) ersetzt.

Weil ich im Oktober aber die eigentlich bis Weihnachten gehen sollende Serie schon eingestellt und aufgegeben habe (da ich mit dem termingerechten Fertigschreiben der noch ausstehenden Beiträge einfach nicht mehr hinterhergekommen war), war nun also auch der große „Jahresakkord“ hinfällig geworden, so daß dieser nette Akkord-Gag dann blöderweise überhaupt nicht präsentiert worden ist.

Und weil der alte September-Beitrag (wegen der darin enthaltenen Bezugspunkte) auch NUR im Monat September veröffentlicht werden konnte, habe ich mich schließlich entschieden, ihn jetzt mit einjähriger Verspätung einfach noch als Outtake nachzureichen. Hope you like ist.  


Der
(ursprüngliche) Akkord-des-Monats-September-2021-Beitrag

Vor fast auf den Tag genau 44 Jahren [jetzt also vor 45 Jahren!] habe ich im Eschhaus meinen ersten Gitarren-Gruppenunterricht abgehalten. Vorher hatte ich lediglich mal einen einzigen Privatschüler gehabt, von dem ich pro Zeitstunde 5 DM bekam [was Mitte der 70er Jahre viel Geld für mich war, da ich als Musiker in jenen Tagen nur selten bezahlte Auftritte hatte und deshalb in der Regel auf wohltätige Spenden meiner Eltern angewiesen war, um mir im Eschhaus jeden Abend ein Glas Apfelsaft leisten zu können]. Bis ich erfuhr, daß mein Schüler das bei mir Gelernte wenige Tage später einem anderen Gitarrenspielanwärter gezeigt und ihm dafür 3 DM abgeknöpft hatte. Da fühlte ich mich doch ziemlich verarscht und habe ihm fristlos gekündigt, so daß ich dann also wieder nur brotloser Künstler war.

Im Sommer 1977 bin ich dann gefragt worden, ob ich im Eschhaus nicht den für September geplanten neuen Gitarrenkurs, den der eigentlich dafür vorgesehene Lehrer (Willi Meyer) wieder abgesagt hätte, übernehmen wollte.

Und so habe ich am 4. September 1977 in der Eschhaus-Teestube also den ersten Schritt auf meinem neuen Berufsweg getan [während ich noch jahrelang glaubte/hoffte/davon träumte, irgendwann mal als Rockmusiker meinen Lebensunterhalt bestreiten zu können]. Diesen Anfänger- und den ein halbes Jahr später hinzugekommenen Fortgeschrittenenkurs habe ich dann bis Dezember 1983 geleitet, bevor ich zur Volkshochschule Duisburg gewechselt und dort 36 Jahre geblieben bin: von Januar 1984 bis zum coronabedingten Aus (meiner damals wöchentlich acht Kurse an drei verschiedenen Orten in zwei verschiedenen Stadtteilen) im März 2020.

Aber zurück zum September 1977: Für diesen Eschhaus-Gitarrenkurs hatte Peter Dietz [der von 1965-68 mein Klassenkamerad auf dem Gymnasium war, mir in der ersten Hälfte der 70er Jahre dann als Musiker (Gitarrist bei „Oxymoron“ und bei „Ausz“) wieder über den Weg lief und 1977 als Zivi im Eschhaus tätig war] ein Plakat gemalt, auf dem auch einige Gitarrengriffe abgebildet waren, die mit verheißungsvollen Aussagen wie etwa „Lerne diesen Akkord (bei H. Pelikan) und die Welt liegt dir zu Füßen“ lockten. Und eines der auf dem Plakat vorgestellten Griffbilder trug den Titel „Die Kunst des House-of-the-Rising-Sun-Spiels“ und stellt den heutigen Akkord des Monats dar:

[Anders als auf Peters Original-Plakat liegt diesem Griffbild jedoch die Bob-Dylan-Version von 1961 zugrunde, die im Gegensatz zur berühmt gewordenen Animals-Fassung (1964) noch ein paar zusätzliche Baßtöne enthält.]

Die von Peter prophezeite Kunst des „House of the Rising Sun“-Spiels ist in den sechseinhalb Jahren meiner Eschhausgitarrenkurse allerdings nie ausgeübt worden, da mein Liederrepertoire damals quasi nur aus Eigenkompositionen bestanden hat und ich im Unterricht deshalb nur Pelikan-Songs und solche von meinem Freund Francis Serafini behandelt habe – während in den VHS-Kursen ab 1984 dann ausschließlich mit Coverversionen gearbeitet wurde.

Wenn ich an die Eschhauskurse zurückdenke, kommen mir vor allem zwei Sachen in den Sinn: (a) daß ich, da der Unterricht immer Sonntag nachmittags stattfand, auf Bonanza gucken verzichten mußte, ich (b) dafür allerdings auch durch einige Schüler-Bekanntschaften entschädigt wurde, die sich zu langjährigen Freundschaften entwickelten.

Mit den Begriffen Eschhaus, House of the Rising Sun und Peter Dietz verbinde ich allerdings noch etwas anderes als nur den Einstieg in mein (mir damals noch nicht bewußt gewesenes) Berufsleben: Am 20. Juli 1977 [also wenige Wochen vor dem Gitarrenkurs-Start] ging wieder einmal ein Benefizkonzert im und fürs Eschhaus über die Bühne, bei dem die beiden Duisburger Bands „Ausz“ und „Glatter Wahnsinn“ in einer absolut einmaligen Doppel-Besetzung auftraten und (mit 2 Bassisten, 2 Schlagzeugern, 2 Gitarristen, 1 Keyboarder und 1 Saxophonisten) herrlich [?] lärmende [!] Instrumentalimprovisationen [!!] zum besten gaben – mit einer einzigen Ausnahme, dem gecoverten „The House of the Rising Sun“ mit Pelikan als Gast am Mikrophon. Und hier das Werbefoto für diesen ungewöhnlichen Gig:

(Foto: Schnuffs Kamera)

Von links nach rechts: Pelikan (Gesang), Bernd Strohm (Gitarre / Glatter Wahnsinn), Rainer Mackenthun (Schlagzeug / Glatter Wahnsinn), Schnuff (Baß / Glatter Wahnsinn), Lucky Ruhnau (Schlagzeug / Ausz), Peter Dietz (Gitarre / Ausz), Martin Urrigshardt (Saxophon / Ausz), Georg Mahr (Keyboards / Glatter Wahnsinn). Beim Fototermin verhindert war: Kalle Burandt (Baß / Ausz).

Schlußbemerkung: Beim Schreiben eines anderen Akkord-des-Monats-Beitrags war mir mal der Gedanke gekommen, daß sich wirklich jede Tonfolge (wie schrecklich sie auch klingen mochte) akkordmäßig genau definieren lassen müßte. So daß es auch eine Bezeichnung für den obigen Chaosgriff geben mußte. Und meine Berechnungen ergaben (von der Tonart a-Moll ausgehend) dann einen Am-Akkord mit vierzehn zusätzlichen Tönen. Und wenn ihr dieses kakophonische Meisterwerk einmal zu Gehör bringen wolltet, müßtet ihr euch nur um ein Klavier und einen zweiten Mitspieler bemühen; oder um drei Gitarristen, von denen einer Em zu greifen hätte, ein anderer Fm und der dritte D/F#, während es dir selbst vergönnt bliebe, auf einer weiteren Gitarre noch den Ton G auf der obersten Baßsaite im dritten Bund beizusteuern. Und nach dem beliebten „Auf die Plätze fertig los“-Kommando schlügen alle gleichzeitig in die Saiten, und fertig wäre ein perfektes (und auf dieser Welt vermutlich – wie auch hoffentlich – noch nicht besonders häufig erklungenes) Am7/b6/9/11/13/14/G/F#/F/E. Dann haut rein, und viel Spaß dabei!

In Erinnerung an Schnuff (Michael Strohm), 1955-2021.


Der Satz der Woche (# 9 / KW 34)

Wir alle schulden dem Tod ein Leben.

Salman Rushdie, „Mitternachtskinder“, 1981
xxxxx[Aus dem Englischen von Karin Graf]


Die Winter-WM in Katar

8. August 2022

Die Fußball-Europameisterschaft der Frauen ist vorbei, und die 60. Bundesliga-Saison der Männer gestartet. Und schon wirft das nächste balltreterische Großereignis seine Schatten voraus.

Wenn im Fernsehen in diesen Tagen von der kommenden und in diesem Jahr ausnahmsweise mal nicht im Sommer stattfindenden Fußball-Weltmeisterschaft der Männer die Rede ist, wird häufig – egal ob aus dem Mund von Moderatoren, Fußballspielern oder -trainern kommend – von der „Winter-WM in Katar“ gesprochen.

Und nun meine Frage dazu: Sind die denn eigentlich alle doof? Denn eins steht doch schon lange fest: Wenn am 18. Dezember das (das Turnier beendende) Finale ansteht, hat der Winter noch nicht einmal begonnen!

Besitzen die denn alle keinen Kalender?

Die Antwort muß wohl lauten: Doch, aber man sollte halt nie den Grad der Dummheit und Gedankenlosigkeit (und leider nicht nur in bezug auf simples Nachplappern) von Menschen unterschätzen.

Und jetzt bin ich gespannt, wann dieses verbale Kack-Eigentor auch mal in „Zeiglers wunderbare Welt des Fußballs“ vorgestellt wird. Hau rein, Arnd.


Der Satz der Woche (# 8 / KW 30)

Danton hatte erklärt, der Halbraumspürer arbeite mit zwischendimensionalen Libroflex-Impulsen, zu deren Erzeugung ein Wandler erforderlich sei, der vierdimensional stabile Impulse der neutralenergetischen Zustandsform der Ultra-Neutrantos anpassen würde.

K. H. Scheer, „Die Macht der Gläsernen“, 1967 [Perry-Rhodan-Heft # 307]

.
Klingt doch auch nicht komplizierter als ein Fluxkompensator, oder?


Der Satz der Woche (# 7 / KW 27)

Gestern nachmittag habe ich noch bei Springsteen und Clapton geputzt […].

Aus einer SMS von meinem Cousin Jürgen


Übrigens:

In einem halben Jahr ist Weihnachten!


Die dritte „Stay healthy“-Liste

Mitte Juni 2022

Nach zuvor schon mehr als 250 veröffentlichten SH-Wortkombinationen [siehe hier und hier], glaubte ich zu Beginn der (nach anderthalb Coronajahren beginnenden) dritten Runde der „Stay healthy“ bedeutenden E-Mail-Verabschiedungsgrüße zwischen Kalle Burandt und mir, daß uns nun wohl kaum noch Interessantes einfallen würde. Ob uns das – um einige Schöpfungen meines Schwagers Norbert Dickmann erweitert – auch ge- (bzw. miß)lungen ist, dürfte sich anhand der nachfolgenden Liste überprüfen lassen.

Satanarchäolügenialkohöllischer Hormonmangel [für Michael-Ende-Fans]
Schwingendes Howalgonium [für Perry-Rhodan-Fans]
Stoßmich-Ziehdichs Hinterteil [für Doktor-Dolittle-Fans]
Spectors Hallgerät
Schneemanns Holzkohleaugen
Schlichter Heiligabend
Scharfsinnige Haferflockenwerbung
Strapazierfähige Hüllen
Sportive Heizungsanlageninstallateure
Stirnbandgeschmückte Hochbettenbauer
Selbstgemachte Heidelbeersauce
Schäbiger Habitus
Strenggenommen hypermodern
Schlimmstenfalls Hausarrest
Schlendernde Helgoländer
Stellungslose Herrscher
Schmerzhafte Hubraumverringerung
Spähende Huronen
Selbstbewußtloser Hüftschwung
Stückweises Herantasten
Statistische Hochrechnungen
Schwedische Hitlieferanten
Stocktauber Hörer
Sintflutgeschädigte Hygrometer
Statt Hefezopf
Schattige Haine
Schlafwandelnde Hundeführer
Symptome herbeireden
Sapperlot Heidewitzka!
Schweigsamer Hauptredner
Spitze Hörner
Stumpfe Harpunen
Splitternde Hellebarden
Stümperhaftes Herumwurschteln
Sehnsuchtsvolles Harren
Sterbenslangweilige Harlekins
Schulterhohe Hecken
Schützender Helm
Seidene Halstücher
Sangesfreudige Herzensbrecher
Seitliche Hebelwirkung
Strittige Herkunft
Stimulierender Hirsebrei
Salingers Hochzeitskrawatte
Steinharte Honigprinten
Schuftende Helmträger
Strandnahe Holzhütten
Strandferne Hochseedampfer
Spürbarer Hygieneboom
Singuläre Herdenimmunität
Sensationslüsterne Hochglanzmagazinreporter
Symbolischer Haarausfall
Schnabelhucks Haltestellenhäuschen
Schrullige Halbdrachen
Stromlinienförmige Hechte
Schildpattgerahmte Heiligenbildchen
Stadtbekannte Heimlichkeiten
Stramme Habachtstellung
Strategische Hasenfußtaktik
Stilsichere Hünengräber
Spitzenmäßige Höhenmesser
Strenger Hermelingeruch
Sanftmütige Hooligans
Sturzbetrunkener Hägar
Sternhagelvoller Hellboy
Sonstige Hallodris
Schlammige Hockeyfelder
Steigerungsfähige Holzhammermethode
Silberne Hutschachtel
Sternekochs Hafergrütze
Scherzende Henker
Sauerstoffarme Höhenluft
Selbst handwerkeln
Stonehenge halbieren
Schrauben hineindrehen
Splitter herausziehen
Schadenersatzpflichtige Husarenstücke
Stellare Hubbleaufnahmen
Sächsisches Hochdeutsch
Schnurrbärtige Hackfressen
Schwerverständliche Haushaltsdebatten
Schmuddeliger Hauptkommisar
Stets höflich
Stellenweises Habenwollen
Saure H-Milch
Stinkender Harn
Steinreicher Hilfsarbeiter
Stotternde Hofnarren
Surfende Hohepriester
Saukalte Heizdecken
Seniorengerechter Hochsprungstab
Scheidungsgrund Hochzeitsnacht
Lindy getanzt [Kalle war krank, und da kann man ja schlecht „stay healthy“ wünschen, ne? Also „Liebe Grüße“]
Leuchtstarke Gasriesen
Lyrisches Gebrabbel
Geheime Biervorräte [= Gute Besserung]
Mit feinwürzigen Gurken [= Mit freundlichen Grüßen]
Ganzjährige Bimmelbahngeräusche
Meine fiebrigen Gedanken
Grundsätzlich Bleifuß
Sperrige Honigkuchenpferde
Schrumpfender Hüne


Irmin Schmidt wird 85!

Am heutigen 29. Mai 2022 wird Irmin Schmidt, der letzte noch Lebende der vier Musiker, die den harten Kern von Can gebildet haben, 85 Jahre alt. Herzlichen Glückwunsch!

Schmidt ist bekannt geworden als Keyboarder der experimentellen deutschen Band Can (1968-1978), hatte zuvor Musik in Dortmund, Essen und Salzburg sowie Kompositionslehre bei Karlheinz Stockhausen in Köln studiert und sich in den 60er Jahren neben Auftritten als Konzertpianist vor allem als (mit mehreren Preisen bedachter) Dirigent hervorgetan.

Inspiriert von unter anderem John Cale (The Velvet Underground) faßte er schließlich den Beschluß, einmal „Avantgarde“ und „Beat“ in einer eigenen Band zu vermischen zu versuchen, was im Sommer 1968 in Köln zur Gründung von Can führte, mit dem (ebenfalls) Stockhausen-Schüler Holger Czukay am Baß, dem freejazzgeschulten Schlagzeuger Jaki Liebezeit, David C. Johnson an der Flöte (der aber nur ein halbes Jahr blieb, weil ihm die Musik doch etwas zu „rockig“ wurde) und dem rund 10 Jahre jüngeren E-Gitarristen Michael Karoli.

Cans Musik – die sich laut Wikipedia zwischen Free Jazz, Avantgarde-Jazz, Funk, elektronischer Musik und Krautrock- und Psychedelic-Rock-Elementen bewegt – hat sich in der Regel bei gemeinsamem Improvisieren entwickelt, was auch für mein eine ganze Plattenseite einnehmendes Lieblings-Can-Stück „Yoo Doo Right“ von ihrer ersten LP „Monster Movie“ (1969) zutrifft, das aber nur einen Teil der mehrere Stunden dauernden Originaleinspielung (von nur zwei Takes) darstellt. Ich habe dieses recht monotone Stück Musik einmal als „Das langweiligste Lied der Welt, das mich noch nie gelangweilt hat“ bezeichnet, und in den frühen 70er Jahren hat es tatsächlich mal eine Zeit von mehreren Wochen gegeben, in der dieser Song einmal täglich auf meinem Plattenspieler laufen mußte, weil die pelikanesische Welt sonst einfach nicht in Ordnung gewesen wäre. Und auch heute bin ich beim Hören dieser Nummer immer noch erstaunt darüber, wie rasch diese (für mich absolut magischen) 20 Minuten und 14 Sekunden jedesmal wieder vorüber sind.

Und wenn hier schon weitaus mehr von Can als von Schmidt die Rede ist, sollen auch die beiden zeitweiligen Vokalisten der Gruppe nicht unerwähnt bleiben: der farbige amerikanische Bildhauer und Maler Malcolm Mooney (1968 und ’69) und der von Can vor einem Münchener Café als Straßenmusiker, der „schrie und irgendwie die Sonne anbetete“ [Bussy/Hall, Das CAN Buch], entdeckte Japaner Damo Suzuki (1970-’73). 1977 wechselte Holger Czukay in der Band dann von seinem angestammten Instrument auf Tapes, Telefon und Kurzwellenradio [kein Scherz!], was Raum schuf für zwei zusätzliche Can-Mitglieder: den jamaikanischen Baßisten Rosko Gee und den ghanaischen Perkussionisten Reebop Kwaku Baah (beide Ex-Traffic).
xxx[Rosko Gee ist den deutschen Fernsehzuschauern ab 1995 übrigens als Baßist der in jeder Folge der Harald-Schmidt-Show auftretenden Helmut-Zerlett-Band wiederbegegnet.]

Neben vielen Konzerten und einem Dutzend Platten haben Can in den 10 Jahren ihres Bestehens auch noch die Musik für etliche Kinofilme (z. B. von Wim Wenders) und deutsche Fernsehproduktionen geliefert, von denen die (ironischerweise „Spoon“ getaufte) Titelmelodie des Durbridge-Dreiteilers „Das Messer“ als Single veröffentlicht wurde und sich (1972) zu einem Top-10-Hit in Deutschland entwickelte.

Nach der Auflösung von Can (Ende 1978) hat Irmin Schmidt neben dem Einspielen einiger Soloplatten [unter anderem einer Fantasy-Oper: Gormenghast] vor allem als Komponist für Film und Fernsehen gearbeitet, bei deren Aufnahmen häufig auch andere Ex-Can-Mitglieder beteiligt gewesen waren.

Und auch mit über 80 hat Schmidt sich noch nicht zur Ruhe gesetzt. Seine bislang letzten Veröffentlichungen sind das 2018 mit Rob Young zusammen erstellte Doppel-Buch [Teil 1 von Young, Teil 2 von Schmidt] „All Gates Open. The Story of Can“ (das leider nur in englischer Sprache vorliegt) und die LP/CD „Nocturne“, die einen Mitschnitt vom Huddersfield Contemporary Music Festival 2019 präsentiert, bei dem Irmin Schmidt alleine am Klavier zu hören ist, im Unterschied zu seinen Anfängen als Live-Musiker in den frühen 60er Jahren hier allerdings auch noch auf vom Band kommende „Klangschaften“ (soundscapes) reagierend.

[Und wenn ein paar bislang eher Can-arme Leser an dieser Stelle auch noch einen pelikanesischen Platten-Tip wünschen sollten, bitteschön:
– Tago Mago (1971)
– Future Days (1973)
Interessant ist auch noch die 2012 erschienene Tripel-CD-Box
– „Can – The Lost Tapes“,
die aus rund 30 Stunden Musik von Tonbändern ediert wurde, die 2007 beim Abbau des alten Can-Tonstudios „gefunden“ wurden, das auf die Reise ging, um – originalgetreu wieder aufgebaut – eine neue Heimat im rock’n’popmuseum in Gronau zu finden.

xxxUnd erst im vergangenen Jahr (2021) sind noch 2 Can-Live-Scheiben mit kompletten Konzerten veröffentlicht worden,
– Live in Stuttgart 1975
– Live in Brighton 1975
die auf beeindruckende Weise zeigen, wie „besonders“ Can-Auftritte gewesen sind, da ihre Musik nicht nach dem Muster „Wir spielen einfach die Stücke von unseren Platten nach“ ablief, sondern nur ein paar Themen davon aufgriff, über die dann gnadenlos improvisiert wurde.]

.
Lieber Irmin Schmidt: Ich danke für viele großartige Stunden, die deine Musik mir in den vergangenen 50+ Jahren beschert hat.

Have a nice day,
dein Pelikan


Der Satz der Woche (# 6 / KW 20)

Aus bloßem Nebel wurde gleichmäßiger Niesel und aus diesem unaufhörlich trommelnder Regen, der drei Tage anhielt, dann vier, und der am fünften Tag, als er hätte nachlassen sollen, stärker wurde.

Louise Erdrich, „Die Wunder von Little No Horse“, 2001
xxxxx[Aus dem Amerikanischen von Gesine Schröder]

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Ausgewählt als Anregung für den Regengott, der hiesigen Natur in diesen dürren Zeiten doch auch mal etwas [allerdings bitte nicht so viel wie vor 10 Monaten im Ahrtal] Feuchtigkeit zu spendieren.


Der (Antwort-)Satz der Woche (# 5 / KW 16)

xxxxxJournalist:
Mister Nurejew, Ihre Bewegungen scheinen die Grenzen des Möglichen zu sprengen.“
xxxxxRudolf Nurejew:
„Das Mögliche hat keine Grenzen.“

Colum McCann, „Der Tänzer“, 2003
xxxxx[Deutsch von Dirk van Gunsteren]


Der Satz der Woche (# 4 / KW 13)

Ist das Antlitz selbst unbestreitbar von einer Abstraktheit, die einen Busters Auge noch auf einem Gemälde von Giorgio de Chirico ausmachen lässt, so verfolgt Keaton „seine generelle Strategie der Abstraktion“ auch mit seinem Schauspielstil, der der hegemonialen Hyperexpressivität seiner Zeitgenossen neu-sachliche Reduktion entgegenstellt und gerade dadurch den Effekt zu steigern weiß.

Klaus Nüchtern, „Buster Keaton oder die Liebe zur Geometrie“, 2012

 

Ob der Autor beim Schreiben dieses Satzes wohl auch an nur normal gebildete Leser gedacht hat?


Der Satz der Woche (# 3 / KW 9)

In jenem Sommer, als mein Vater den Bären kaufte, war noch keiner von uns auf der Welt – wir waren noch nicht mal gezeugt: weder Frank, der älteste, noch Franny, die lauteste, noch ich, der nächste, noch die jüngsten von uns, Lilly und Egg.

John Irving, „Das Hotel New Hampshire“, 1981
xxxxx[Aus dem Amerikanischen von Hans Hermann]

 

Obige Worte sind die ersten, die ich jemals von John Irving gelesen habe. Sie bilden den Anfang seines fünften Romans, der, wenn ich mich recht erinnere, in der ersten Hälfte der 1980er Jahre den Weg zu mir als Geburtstagsgeschenk von meinem Freund Ralph (Herzliche Grüße nach Berlin) gefunden hat. Zuvor hatte ich noch nie etwas von diesem Autor gehört.

Und übermorgen, am 2. März 2022, wird John Irving 80 Jahre alt. Herzlichen Glückwünsch nach Toronto und Vermont (wo er abwechselnd lebend zu Hause ist).

In den USA ist für Oktober dieses Jahres das Erscheinen seines 15. Romans („The Last Chairlift“) angekündigt, und vielleicht vermag dieses Buch ja wieder etwas an alte Stärken anzuknüpfen, was der letzten Veröffentlichung von 2015 („Straße der Wunder“) leider nicht gelungen war. Doch selbst wenn nicht, bleiben seine Romane
– Garp und wie er die Welt sah (1978)
– Das Hotel New Hampshire (1981)
– Gottes Werk und Teufels Beitrag (1985)
– Owen Meany (1989)
– Zirkuskind (1994) und
– Letzte Nacht in Twisted River (2009)
eins der größten und – trotz ihrer durchschnittlichen Länge von mehr als 750 Seiten – kurzweiligsten Lesevergnügen, die ich in den vergangenen 40 Jahren (glücklicherweise auch beim zweiten und dritten Durchgang noch) erleben durfte.


Der Satz der Woche (# 2 / KW 5)

Wer steht meinem Herzen näher, ein Soldat meines Landes oder ein Dichter meines Feindes?

Colum McCann, „Apeirogon“, 2020
xxxxx[Aus dem Englischen von Volker Oldenburg]


Der Satz der Woche (# 1 / Kalenderwoche 3)

„Mir steht frei, wie ich meiner Wege g.“

Raymond Queneau, „Zazie in der Metro“, 1959
xxxxx[Aus dem Französischen übersetzt von Frank Heibert]

 

Obiger Satz gehört mit seiner besonderen Pointe natürlich viel mehr dem Übersetzer als dem Autor des Buches und ist auch nur in der Heibert’schen Neuübertragung von 2019 zu finden [in der alten Version hieß es an gleicher Stelle: „Ich bin frei wie die Luft.“]. Doch paßt er in seiner Eigenart perfekt zum Bild des französischen Originals, dessen Spiel mit Sprache und phonetischer Notation [à la: es steht mir frei, wie ich meiner Schreibwege gehe] ein wichtiges Merkmal dieses vergnüglich-kecken Romans ist.
xxxxxDie alte Übersetzung von Eugen Helmlé aus dem Jahr 1960 ist zwar auch nicht schlecht, klingt im großen und ganzen aber doch etwas „hölzerner“ als die Heibert’sche Neufassung, welche ich mit derart gesteigertem Lesevergnügen genossen habe, daß ich dem Roman danach, statt der zuvor verliehenen 4,5 pelikanesischen Bewertungspunkte, das Maximum von 5 Sternchen zukommen lassen mußte. Ein Hoch auf Queneau und Heibert!


Nach dem Akkord des Monats

3. Januar 2022

Liebe Leute!
Mit dem heutigen Montag beginnt die 1. Kalenderwoche des neuen Jahres. Und während das vergangene Jahr websitemäßig vor allem im Zeichen des Akkord des Monats gestanden hat, wird diese Rubrik ab sofort vom Satz der Woche abgelöst, dessen Bandbreite von „besonders toll“ bis „besonders untoll“ reichen soll.

Da ich dem treuen Leser aber nicht ständig nur von fremdem Hirn gewählte Sätze vorhalten möchte [was ich auf dieser Webseite ja ohnehin schon viel zu häufig getan habe und in Zukunft auch weiterhin zu tun gedenke], sollen ihm etliche „Freiwochen“ im Jahr die Gelegenheit geben, auch selber mal nach besonderen Sätzen der Woche zu fahnden. Und wenn montags hier kein neuer Satz der Woche aufgetaucht sein sollte, wird in jener Kalenderwoche auch keiner mehr verspätet nachgereicht werden.

Und Kalenderwoche 1 stellt gleich schon eine dieser eigenkreativlichen Freiwochen dar, so daß ihr euch also umgehend schon auf die erste spannende Wortejagd begeben könntet. Dann macht was draus und habt viel Spaß im neuen Jahr mit dem Satz der Woche.

Euer Pelikan


Heiligabend 2021

Vor neun Nächten träumte mir, daß Willi Kissmer mich während eines Solokonzerts in den USA auf die Bühne gebeten hätte, um gemeinsam einen Song von Francis Serafini vorzutragen. Und so hat Willi mir zu meinem einzigen (wenn auch nur Traum-)Bühnenerlebnis in Amerika verholfen.

Lieber Willi, und heute trinke ich ein imaginäres (bin ja seit mehr als 20 Jahren schon weg davon) Glas deines Lieblingsrotweins auf dich und hoffe, daß du mich auch weiterhin per Traum so häufig besuchen kommen wirst wie in den vergangenen dreieinhalb Jahren.

Am heutigen 24. Dezember wäre Willi Kissmer 70 Jahre alt geworden.

[Und mehr über Willi gibt’s hier zu lesen.]


Neue Pelikan-Geschichte: „Von Elfen, Mond und Sternen“

Anfang November 2021

Tradition kann man es wohl noch nicht nennen [vielleicht ja im nächsten Jahr], doch ist heuer zum dritten Mal nacheinander in der Herbstausgabe von Helmut Loevens Zeitschrift „Der Metzger“ eine Pelikan-Story aus dessen (immer noch) in Arbeit befindlichem neuen Buch „In Ermangelung eines aldebaranischen Sternenhimmels“ erschienen.

Von Elfen, Mond und Sternen“ lautet der Titel der bislang nur bei Lesungen vorgestellten und im aktuellen „Metzger“ Nr. 142 erstmals in gedruckter Form vorliegenden Märchen-Geschichte, die mit folgenden Worten beginnt:
xxxxx„Ihr habt doch sicher alle schon einmal einen richtig dicken, prächtig glänzenden Vollmond in samtschwarzer Nacht am hohen Himmel stehen sehen und euch Gedanken über das ständige Hin und Her des einmal Zu- und dann wieder Abnehmens des Mondes gemacht. Und wahrscheinlich hat ein kluger Kopf euch auch mehr als einmal schon eine gelehrte Erklärung dazu gegeben, die ihr trotz der vielen Worte aber doch nicht recht verstehen konntet. Und vermutlich habt ihr – genau wie auch ich bis zu dem Tage, an dem die nachfolgende Geschichte sich ereignete – kaum noch damit gerechnet, einmal die ganze, simple Wahrheit über dieses erstaunliche Phänomen zu erfahren, von dem ich euch nun, selbst auf die Gefahr hin, von dem einen oder anderen für einen kleinen Träumer oder großen Lügner gehalten zu werden, berichten möchte.“

 

Zu beziehen über Helmut Loevens Buchhandlung „Weltbühne“,
Gneisenaustraße 226, in 47057 Duisburg (Neudorf).
E-Mail: situationspresse@gmx.de
Telefon: 0203 – 37 51 21


Stay healthy 2

Mitte Oktober 2021

Angefangen hatte alles vor ein paar Jahren damit, daß mein Freund Kalle Burandt und ich die typischen LG-Schlüsse für E-Mails doch ziemlich langweilig fanden. LG bedeutete ja immer dasselbe: Liebe Grüße. Und um etwas mehr Würze in die Angelegenheit zu bringen, beschlossen wir, einfach neue Ursprungsworte für LG zu finden, wie z. B. „Leberknödellose Gemüsesuppe“ und ähnliches [Liste siehe hier], was aber nach wie vor Liebe Grüße bedeuten sollte.
xxxxxMit Beginn der Corona-Scheiße sind wir dann von „Liebe Grüße“ auf „Bleib gesund“-Wünsche umgestiegen, haben jedoch die englische Version „Stay healthy“ benutzt, um mit zwei noch vollkommen unverbrauchten Buchstaben jonglieren zu können (da das G ja sonst schon zum zweitenmal drangekommen wäre: Grüße/gesund).
xxxxxNach einem Jahr hatte ich unsere erste SH-Liste veröffentlicht
[siehe hier], und nachfolgend ist nun – nur sieben Monate später (wenn man den Dreh einmal raus hat, wird’s leichter) – die zweite zu bewundern. Sie besteht aus ca. 95 % unserer E-Mail-Schlußformeln, und auch mein Schwager hat diesmal ein wenig was beigesteuert.
xxxxxLG, und bleibt gesund!

Schimanskis Häkelgruppe
Streitbare Harmonielehredozenten
Sprintende Handtaschendiebe
Schmackhafte Horsd’œuvres
Spuckende Hostessen
Sapiensische Homos
Steckengebliebene Höhlenforscher
Spanische Holländer
Seßhafte Herumtreiber
Selbstbestimmte Hampelmänner
Saisonübergreifende Heimspielpleiten
Salzarmes Hundefutter
Squashballgroße Hagelkörner
Staubedingter Halt
Superkluge Handys
Schnellingers Handschuhe
Stoppelkamps Hattrick
Senftopfrote Hinterräder
Schläfriger Himalaya
Schwafelnde Heimatkundler
Schlanke Hippopotamus [in der Frage der Pluralform (…mus oder …mi) haben meine 4 Wörterbücher mit 3:1 für …mus gestimmt]
Schwellender Hulk
Stürmische Hafenrundfahrt
Schlappe Höllenqualen
Synchrone Handlungen
Strenggläubige Heiden
Sindbads Harem
Stehende Hänger
Seufzende Herzöge
Sondierende Höflichkeit
Stabhochspringende Heinzelmännchen
Stradivaris Holzlieferant
Solide Haltlosigkeit
Sämtliche Hundefürze
Schwangere Hologramme
Scheiternde Himmelsstürmer
Schlimmer Husten
Säbelzahntigers Hinterhalt
Steinzeitliche Hundertmeterläufe
Spielzeug heimbringen
Sonnenuhren herstellen
Stinktiere herausfordern
Sentimentale Heinis
Suppengrüne Halogenscheinwerfer
Streikende Hausbesitzer
Strickende Hausbesetzer
Schalkes Huntelaar
Steppenwolfs Hammondorgelspieler
Störende Halluzinationen
Saphirblaue Honigbienen
Siebentausend Haarnadelkurven
Struwwelpeters Hair-Stylist
Sauffreudig hackedicht
Silbriger Halbmond
Sanfte Harfenklänge
Sommerliche Herbsttage
Seltsamstägliche Hütchenspiele
Seine Hoheit
Sir Henry
Schnuckenacks Herzensangelegenheit
Stündliche Halbwertzeit
Schmückende Hawaiihemden
Shakespeares Hotzenplotz
Stereotypes Happy-End
Schießwütige Hobbyfotografen
Streichholzkurze Haarteile
Sexy Halbkugeln
Sengende Hitze
Schokoladeneis hinweggeschmolzen
Spielentscheidende Hinausstellung
Schätze heben
Systematische Hortung
Seriöse Halsabschneider
Schuhplattlernde Holzhackerbuam
Stabiler Horizont
Saftiger Hinterschinken
Sanierungsbedürftige Heizung
Schmetterndes Hurra
Saloppe Hutträger
Strikte Handhabung
Schizophrene Haustiere
Schäferhund Harro
Singvogel Hansi
Schleierfisch Hermine
Samoanische Hofreitschulen
Schweizer Höhenzüge
Staatsoper Hückeswagen
Spiegeleilose Heldentenöre
Sportliche Herausforderungen
Spannende Hängepartien
Scheidende Handballtrainer
Senile Hacker
Schrille Hupen
Steuern hilft
Schluckaufgeplagte Hyänen
Schleichende Hunnen
Seismische Hypothesen
Sichtlichst hanebüchen
Sattelfeste Hippotherapeutin
Sorglose Hanswurstiaden
Schimmernde Hauswände
Sesselbezug Honolulu
Sitzecke Hamrångefjärden
Schmiedeeisernes Hoftor
Seltsame Herangehensweise
Sekündliches Herunterfallen
Schummelnde Hilfsschullehrer
Schon heftig
Schmetternde Hand
Schnaubender Hatatitla
Santers Heimtücke
Shatterhands Henrystutzen
Stichwort: Hurz
Snoopys Hundehütte
Schüttere Haarpracht
Scorseses Harrison-Film
Schottisches Hochland
Schlesische Heimat
Schwachsinnige Horoskope
Speerwerfende Hindernisläufer
Schloß Hogwarts
Schachverrückte Hausfrauen
Seitenweise Handverlesenes
Schwirrende Heuschrecken
Sehenden Hühnerauges
Sehr hehr
Streßfreie Havarie
Stattliche Hakennase
Sonores Halali
Sing Halleluja
So happy
Selbstgebackener Hagebuttenknoblauchkuchen
Skandalnudelauflauf Hollywood
Scharrende Hufe
Schnarchende Harpyien
Speckige Hosenbandorden
Schmetterlinge herbeiwünschen
Siebenundsiebzigtausendsiebenhundertundsiebenundsiebzig Häftlingsanwärter
Saturnferne Himmelskörper
Steter Herzschlag
Startende Hummeln
Subtropische Hurrikans
Sonntägliche Halbaffen
Sägender Holzwurm
Städtisches Hallenbad
Gigantisch weite Schlaghosen [Kalle war schlimm erkältet, also: get well soon]
Streifenhörnchens Hörnchenstreifen
Schwächelndes Hoch
Schiefer Haussegen
Schwatzhafte Heimlichtuer
Schlampige Hempels
Separate Hog-Dog-Rechnung
Simple Hexameter
Schuppige Hütten
Schwitzende Hammerwerfer
Schale Hülsen
Schimmelnder Hartkäse
Säuselnder Hauch
Schaukelnde Habenichtse
Saurierfreundliche Hochgebirgsbewohner
Schauspielernde Herren
Sting höchstpersönlich
Schuberts Heinz
Subtrahierte Hektoliter
Stevensons Hispaniola
Silvers Holzbein


100. Geburtstag von H. C. Artmann

12. Juni 2021

H. C. (Hans Carl) Artmann ist zwar nie im Eschhaus gewesen, aber trotzdem habe ich ihn dort kennengelernt. [Das „Eschhaus“ – eines der ersten unabhängigen und selbstverwalteten Jugendkulturzentren in Deutschland – hat von 1974-1987 in Duisburg Mitte (Niederstraße) existiert.] Dieser Ort ist bis zum Anfang der 80er Jahre (als die Punks immer mehr das langhaarig-gemütliche Gesamtbild auf respektlos-destruktive Weise zu trüben begonnen hatten) meine zweite Heimat gewesen, in der ich vielen Menschen begegnen durfte, die mein Leben bereichernd beeinflußt haben. Mitte der 70er Jahre bin ich mit Anfang 20 noch ziemlich unbedarft, naiv und selbstbewußtlos gewesen, und was die Schule nicht geschafft hatte [siehe auch den ersten Teil des unten stehenden Mai-Akkord-Beitrags], hat mir das Eschhaus ermöglicht: mich kulturell und persönlichkeitsentwickelnd weiterzubilden.

Zu H. C. Artmann bin ich über Bruno Ruhrort gekommen, einen leicht verrückt intelligent versponnenen Kerl [was von Helmut Loeven noch durch „von leichtfüßiger Eleganz, gebildet, angenehm im Umgang“ ergänzt wurde], der (was ich so schick fand, daß ich es schließlich kopiert habe) häufig ein Buch in der Jackentasche mit sich herumtrug und mit seinem „kulturellen“ Esprit eine deutlich weitere Welt offenbarte, als mein eigenes, sich vor allem um Musik drehende, Universum bis dahin erforscht hatte. Ich hatte zwar immer schon gern gelesen, mich in jenen Tagen – mit Ausnahme von Hermann Hesse – für deutschsprachige Schriftsteller (vielleicht auch wegen meiner negativen Erfahrungen im Deutschunterricht auf dem Gymnasium) aber kaum interessiert, und erst recht nicht für noch lebende Gegenwartsautoren [weil ich damals viel zu sehr vom für mich alles überstrahlenden Musikheroentum geblendet war], was sich erst durch die Bekannschaft mit den Schriften von H. C. Artmann zu ändern beginnen sollte.

Im Oktober 1975 hatte ich zu meinem 22. Geburtstag von Bruno Ruhrort einen Oplaten-Keks geschenkt bekommen, auf dessen Eßpapier-Rückseite mit Bleistift vermerkt war:
xxxxxTräumte dir, es wüchse dir vom kinn herab ein verlauster mandarinenbart und dieser hätte eine länge von 56 zentimetern, bestünde aus 56 einzelnen haaren und besäße 56 lila läuse, so schätze dich glücklich, denn eine triplesechsundfünfzig in dieser konstellation ist unter chinesen ein besonderes zeichen.
xxxxxIch besaß zwar keinen 56 cm langen Chinesenbart (und Läuse habe ich bis heute auch noch nie gehabt), doch das mit den 56 Härchen am Kinn könnte
(ich hatte mich damals noch nicht sehr häufig rasiert) ungefähr hingekommen sein.

Als ich Bruno das nächste Mal traf, fragte ich ihn natürlich sogleich nach dem Urheber des Keksgedichts und hörte also zum ersten Mal den Namen H. C. Artmann, dessen Anfangskürzel irgendwie „Geheimnisvolles“ zu vermitteln schienen, während der Nachname im wahrsten Sinne des Wortes kunstvoll daherkam („Art“ = „Kunst“ im Englischen). Und ich bat Bruno, mir doch ein paar Buchtitel dieses Autors zu nennen, welche (wenn ich mich recht erinnere) folgende waren:
Frankenstein in Sussex / Fleiß und Industrie
How much, schatzi?
The Best of H. C. Artmann,
die es damals glücklicherweise
(weil ich mir gebundene Bücher zu der Zeit kaum leisten konnte) alle als Taschenbücher gab und die in den nächsten Wochen den Grundstock für meine heute mehr als 30 Bände umfassende Artmann-Sammlung legten. Die „Grünverschlossene Botschaft“ (= das Buch mit den Träumen, dessen 56. auf meinem Geburtstagskeks gelandet war) hatte übrigens nicht auf Brunos Liste gestanden, weil es insgesamt leider doch nicht das qualitative Niveau besaß, welches Traum Nr. 1 noch zu versprechen schien:
xxxxxIm herzen einer grille das cello zu streichen, ist ein häufiger traum und anlaß zur hoffnung, geld zu erwerben, gesetzt daß die grille von einer wachtel verspeist wird, die wachtel aber von einem lamm, das lamm von einem wolf, und dieser wieder von einem hungernden admiral, den seine meuternde flotte an der küstenebene von Oregon ausgesetzt hat. Dann tönt das cello in den eingeweiden admiral Boyds, du erwachst und schreibst, deine eigene musik noch im ohr, die zahl eins.
xxxxx
Solch eine Prosa war mir bis dahin noch nie untergekommen: etwas so Spielerisches und Fabulierfreudiges, etwas, das auf mich den Eindruck von gleichzeitig Ungekanntem wie auch sehr Vertrautem (irgendwie schon immer Erahntem oder so) machte. Das hatte nun wirklich keine Ähnlichkeit mehr mit dem häufig so verknöchert, verkopft und gewollte hochtrabend wirkenden Deutsch, das im Unterricht auf dem Gymnasium von den Lehrern immer so gern zerpflückt und durch die Mangel gedreht worden war. Und die Entdeckung, daß im deutschsprachigen Raum neben dieser mich eher frösteln machenden Schulunterrichtslektüre auch noch eine lebendige und vor Wortspaß sprühende Gegenwelt existierte, habe ich in erster Linie wohl dem besonderen Geburtstagsgeschenk von Bruno Ruhrort zu verdanken, das eine neue Flamme im damals noch sehr in Schatten getauchten pelikanesischen Kosmos entzündet hat und auch auf meine eigenen [und noch SEHR schlechten] Schreibversuche (seit Ende 1973) ein wenig abfärbte, wenn auch eigentlich nur äußerlich.
xxxxxUnd auch die Titel der Artmann’schen Werke vermochten schon den Geruch einer irgendwie anderen Sprachwelt herüberwehen zu lassen. Hier eine kleine Auswahl in „abecedarischer“ [auch eine des Meisters Wortschöpfungen] Reihenfolge.

  • Das im Walde verlorene Totem (1970)
  • das prahlen des urwaldes im dschungel (1983)
  • Das suchen nach dem gestrigen tag (1964)
  • Der aeronautische Sindtbart (1972)
  • Die Jagd nach Dr. U. (1977)
  • Nachrichten aus Nord und Süd (1978)
  • Unter der Bedeckung eines Hutes (1974)

Artmanns literarisches Œuvre umfaßt Theaterstücke [gesammelt in „die fahrt zur insel nantucket„, 1969], Lyrik [gesammelt in „ein lilienweißer brief aus lincolnshire„, 1969 / „Sämtliche Gedichte„, 2003] und Prosa [gesammelt in „Grammatik der Rosen„, 1979 / „Gesammelte Prosa„, 2015].

xxxxxTheaterstücke: Diese Schauspiele haben mit klassischen Vorbildern mitunter aber nicht mehr viel gemein, was auch aus einigen Besetzungslisten schon ersichtlich werden dürfte, wenn in „fauler zauber in schwarz-afrika“ (1963) etwa Audrey Hepburn und David Niven ein weibliches Okapi bzw. einen männlichen Löwen verkörpern. Und auch Regieanweisungen wie „man hört genau, wie die geduld, zuerst langsam, dann schneller und zum ende hin ganz schnell, abreißt“ [in „Lasse und Mustikka„, 1961] oder „kutlyoos schatten [gespielt von Charles Laughton] lagert sich über das kolossalgemälde pickmans, wird aber, da unsichtbar, von keinem der beiden nachtwandler bemerkt“ [aus „how lovecraft saved the world„, 1963] sind keine Seltenheit.

xxxxxLyrik: Ich selbst bin kein besonderer Gedichteliebhaber, doch Verse von Artmann lese ich tatsächlich gar nicht so ungern. Etwa schräges Zeug wie:
xxxxxein männlein steht am schalter / so gar nicht stumm / und sagt zu dem beamten: / sei bloß nicht dumm, / gib die schönen piepen her, / glaube mirs, / die freun mir sehr, / und drückste auf die klingel, / leg ich dir um. [„allerleirausch„, 1967]
Oder romantisches Zeug wie:
xxxxxwie der saft einer sehr süßen frucht / von dem man lange im traum trinkt.. / wie der schatten eines jungen tieres, / das leise um eine quelle herumgeht.. / wie ein sehr schöner, belaubter baum, / den die erste zärtlichkeit der nacht / heimsucht mit singenden grillen und tau.. / wie mein eigener finger, geliebtes, / der ganz leicht deine lippen berührt.. [„noch vier gedichte, auf eine klinge geschrieben„, 1960]
Oder Kinderzeug (für seine Tochter Emily Griseldis) wie:
xxxxxvon burg zu burg / reitet der zwurg. [„das prahlen des urwaldes im dschungel„, 1983]

xxxxxProsa: In diese große Schublade passen nun sehr viele kleinere Schächtelchen, wie etwa die bereits erwähnten 90 Träume der „Grünverschlossenen Botschaft“ (1967), oder die kleinen Berufsidyllen aus „Fleiß und Industrie“ (1967), oder die Fast-so-etwas-wie-Kurzgeschichten in „How much, schatzi?“ (1971), oder der abendteurliche Luftreisebericht in „Der aeronautische Sindtbart“ (1972 / verfaßt ca. 1958), oder der auf 175 Seiten ohne Punkt, Komma, Großbuchstaben oder Absatz auskommende Monolog der „Nachrichten aus Nord und Süd“ (1978), oder das schwedische Tagebuch mit Eintragungen wie „Morgen ist samstag, heute ein freitag, bald herbst“ in „Das suchen nach dem gestrigen tag“ (1964) und einiges andere mehr. Doch allen Texten (bis auf die satzzeichenlosen „Nachrichten…“) ist eines gemeinsam: Artmanns besondere Verwendung (bzw. Nicht-Verwendung) von Großbuchstaben, weil diese (wie im Englischen) bei ihm nur am Satzanfang und bei Eigennamen vorkommen, was für den ungeübten Leser zuerst etwas gewöhnungsbedürftig ist, nach einer Weile aber kaum noch stört.

Und diese den deutschen Rechtschreibregeln nicht folgende Kleinschreibung hatte es mir sogleich ungeheuer angetan, weil sie (a) so schön verrückt war, sich (b) so fröhlich aufmüpfig gegen vorgeschriebene Regeln stellte [mehr zu meiner Regelallergie findet sich im (diesem Artikel nachfolgenden) „Akkord des Monats Mai“-Beitrag] und (c) alles andere als unauffällig war. Und wenn ich selbst in den 70er Jahren schon nicht durch besondere literarische Begabung beeindrucken konnte, wollte ich wenigstens anders sein und irgendwie auffallen. Und so übernahm ich (auch um Artmann damit zu huldigen) 1976 diese besondere Kleinschreibung für mehr als nur meine literarischen Versuche. [Erst ein Vierteljahrhundert später bin ich wieder zur normalen Rechtschreibung zurückgekehrt (ohne allerdings die Regeln der uns mittlerweile vor die Nase gesetzten Rechtschreibreform zu akzeptieren), weil ich das Aufnehmen von Pelikantexten für kommende Leser doch ein wenig einfacher machen wollte.]
xxxxxDoch ist dies längst nicht alles gewesen, was ich von Artmann gelernt habe.

In den biographischen Angaben seiner im Deutschen Taschenbuchverlag (dtv) erschienenen Bücher hieß es in den 70er Jahren:
xxxxx„H(ans) C(arl) Artmann wurde im Juni des Jahres 1921 in St. Achatz am Walde geboren, schreibt Lyrik, Prosa und Theaterstücke, lebt je nach Stimmung in den Städten Europas (so auch in Malmö), liebt alles Gute und Böse, bekennt sich zum Positiven, das letzten Endes doch immer siegen muß, denn: wo kämen wir sonst hin.“
xxxxxSo weit, so gut; doch wo in aller Welt lag St. Achatz am Walde? Der im elterlichen Bücherschrank auf genau solche Gelegenheiten nur wartende Band 1 (A-Ate) der 17. völlig neu bearbeiteten Auflage des Großen Brockhaus (in 20 Bänden, 1966-1974) vermochte da weiterzuhelfen: Artmann, Hans Carl, Schriftsteller, * St. Achatz am Walde (Niederösterr.) 12. 6. 1921Okay, Artmann war also Österreicher, doch fand sich Erwähnung und Lage seines Geburtsortes leider nicht einmal im „Großen Weltatlas“ von 1960 auf den „Spezialkarten [im nicht gerade kleinen Maßstab 1:500 000] von Deutschland, Österreich, Schweiz“, in einem Atlas also, der sogar „Zinse“ aufführte, eine Ortschaft im Rothaargebirge, die 1964, als ich als Zehnjähriger dort (wegen Problemen mit den Bronchen) zur Kur weilte, etwas weniger als 100 Einwohner besaß. Sollte St. Achatz also sogar noch kleiner als Zinse sein?
xxxxxUnd in der Tat, denn es hatte nicht nur weniger als 100, sondern sogar weniger als 1 Einwohner … weil ein Ort dieses Namens nie existiert hatte und von Artmann einfach erfunden worden war. Und als ich das herausbekam, fand ich diesen schon über 50jährigen Burschen [während ich anderen Leuten seines Alters damals nur selten größeren Respekt entgegenbrachte] eigentlich nur noch toller: ein mit dem „Großen Österreichischen Staatspreis für Literatur“ ausgezeichneter Kerl, der in zeitgenössischen Lexika mit gefälschten Daten vertreten war. Was für ein herrlicher Imaginärer-Mittelfinger-Spaß!
xxxxxUnd wen wundert’s da noch, daß auch Pelikan dann eine Vorliebe für autobiographische Fake News zu entwickeln begonnen und neben Duisburg in seinen Büchlein (ab 1976) auch noch Zinse und Prag als Geburtsort angegeben hat; und auch beim Geburtsjahr ist kräftig und gern geschummelt worden, so daß ich (Veröffentlichungen in Anthologien und so hinzunehmend) bis Mitte der 1980er schließlich alle Jahrgänge von 1949-1954 einmal durchhatte.
xxxxxUnd der Höhepunkt dieser „Aktionen“ ist zweifellos der Moment gewesen, als mein Vater [mit dem ich mich alles andere als gut verstanden hatte] von Bekannten mal, ernsthaft zweifelnd, gefragt worden ist, ob ich denn auch wirklich sein Sohn sei … da in meinem dritten Buch (1978) irgendwo geschrieben stand, daß ich bereits im Alter von 3 Jahren meine Eltern verloren hätte. [Und so viel zu „ungehorsamen“ Söhnen.]

Ich habe H. C. Artmann auch zweimal live bei Lesungen erlebt, und bei der ersten (in Bonn 1982) bin ich ganz bis zum Schluß geblieben, um meinen Helden noch bis zum Signieren des allerletzten ihm dargereichten Buches beobachten zu können. Und zwei-, dreimal hat man ihn dabei auch gebeten, ein Foto von ihm machen zu dürfen, woraufhin er sich als Antwort jedesmal sogleich die roteingefaßte Lesebrille von der Nase gerissen und eine leicht gekünstelte Pose eingenommen hat, ganz à la: „Hier bin ich, ein fescher Art- und Dichtersmann!“
xxxxxUnd angesichts eines bestimmten, ihm zum Autogrammieren vorgelegten Buches bemerkte er: „Ach, das hätte ich auch gerne mal wieder. Das hat meine kleine Tochter leider irgendwann mal zerrissen.“ Und weil ich selbst (a) im Besitz dieses Buches gewesen bin, es (b) aber gar nicht so supertoll fand, habe ich ihm mein Exemplar (die illustrierte Ausgabe einer kleinen Kindergeschichte) dann zum Jahresende anonym – denn ich wollte mich ja nicht aufdrängen – zu Weihnachten zukommen lassen. (Damals – das waren noch andere Zeiten! – brauchte man nur den Verlag anzuschreiben und bekam ohne Umstände die gewünschte Privatadresse mitgeteilt.)

1984 ist dann noch ein ganz besonders schönes Artmann-Buch in einer nummerierten und signierten Auflage [so daß ich somit also doch noch zu einem (ungewollten) Autogramm gekommen bin, da ich bei den beiden Lesungen bewußt darauf verzichtet hatte] von 180 Exemplaren erschienen: „nachtwindsucher – Einundsechzig österreichische Haiku„. Und falls es jemand nicht wissen sollte: ein Haiku ist eine jahrhundertealte japanische Gedichtform, bestehend aus drei Zeilen mit den Silbenlängen 5-7-5 [obwohl im Original Moren statt Silben gerechnet werden], das traditionell vor allem Naturbilder übermittelt. Hier mein österreichisches Lieblingshaiku:
xxxxxdie junge kröte
xxxxxklein wie sie ist und langsam
xxxxxhat sich verspätet.

Und einige Wochen später hat Artmann zu seinem 63. Geburtstag dann eine anonyme Postkarte aus Duisburg bekommen:
xxxxxder briefträger bringt
xxxxxeine karte als fangruß
xxxxxherzlich und einfach.

H. C. Artmann ist am 4. Dezember 2000 in seiner Heimatstadt Wien gestorben. Am heutigen 12. Juni würde er 100 Jahre alt geworden sein.lt geworden sein.

.
[In dankbarer Erinnerung an Bruno Ruhrort (29. September 1954 bis 28. Dezember 2017), einen wirklich besonderen Zeitgenossen, der in meinen Gedanken immer mit H. C. Artmann verbunden sein wird, welcher 1953 in seiner „Acht-Punkte-Proklamation des poetischen Actes“ erklärt hatte: „Es gibt einen Satz, der unangreifbar ist, nämlich der, daß man Dichter sein kann, ohne auch irgendjemals ein Wort geschrieben oder gesprochen zu haben.“
xxxxxIch weiß nicht, ob Bruno Ruhrort selber auch Verse verfaßt hat, doch hat er immer gut und gern geredet und ist mir dabei mehr als einmal wie ein wahrer Dichter vorgekommen.]

Duisburg, 6. bis 11. Juni 2021

 


Mein Cousin oder 1 Jahr Corona-Krise und (eine zweite) seine(r) Folgen

Wenn die Corona-Pandemie nicht gekommen wäre, hätte ich meine VHS-Gitarrenkurse nicht an den Nagel gehängt.

Wenn ich die Gitarrenkurse nicht an den Nagel gehängt hätte, hätte ich nicht ausnahmsweise auch mal wieder Privatunterricht gegeben: dem übungsfleißigsten Schüler meines zwangsabgebrochenen letzten Semesters. (Natürlich mit Schutzmasken und Abstand.)

Wenn ich Jürgen keinen Privatunterricht gegeben hätte, hätten wir uns nicht auch mal über andere Themen als Gitarre spielen unterhalten.

Wenn wir uns nicht über andere Themen unterhalten hätten, hätten wir nicht festgestellt, daß mein Urgroßvater und sein Ururgroßvater dieselbe Person gewesen sind.

Wenn die Corona-Pandemie nicht gewesen wäre, hätten wir nie erfahren, daß wir miteinander verwandt sind.

Life is what happens to you while you’re busy making other plans.
xxxxxJohn Lennon, Beautiful Boy (Darling Boy), 1980


Stay healthy oder 1 Jahr Corona-Krise und (eine) seine(r) Folgen

Mitte März 2021

Wie an anderer Stelle bereits berichtet [und hier auch noch mal nachlesbar], waren mein Freund Kalle Burandt und ich zu Beginn des Jahres 2016 davon abgekommen, unsere E-Mails mit dem „Liebe Grüße“ bedeuten sollenden LG-Kürzel zu beenden. Wir wählten statt dessen – um das Ganze etwas interessanter zu gestalten – den rückwärtsgewandten Weg einer Neudefinition der Ursprungsbedeutung und verabschiedeten uns fortan mit Wortkombinationen wie Lärmende Gegengerade, Ledergebundene Gesamtausgaben, Lauwarmes Gemüse und so weiter.

Mit Beginn der Coronakrise schien es uns aber angebracht zu sein, den alten Gruß gegen einen „Bleib gesund“-Wunsch auszutauschen, dessen Einführung nicht nur der aktuellen Lage Rechnung tragen, sondern auch noch eine frische Brise in unsere (nach 4 Jahren) doch schon häufig übergangene E-Mail-Schlußwort-Suche bringen sollte. Es gab da nur einen kleinen Haken. In BG („bleib gesund“) war ja ebenfalls der in LG vorkommende und von uns schon x-mal durchgekaute Buchstabe G enthalten, so daß wir uns, um doch mit vollkommen neuen Wörtern jonglieren zu können, für die englische Variante SH („stay healthy“) entschieden haben – was sich schließlich auch deshalb als exzellente Wahl erwiesen hat, weil es einfach doppelt so viele Wörter gibt, die mit S+H als mit L+G beginnen.

Und nach jetzt schon einem ganzen Jahr der Verwendung dieser neuen Grüße möchte ich euch nun auch davon eine Best-of-Liste präsentieren, der im nächsten Jahr bestimmt noch eine zweite folgen wird. Bis dahin, macht’s gut und bleibt gesund.

Scheue Hasen
Sieben Häscher
Schwarzwälder Hirschsorte
Starrs Hi-Hat
Starkeys Hängetoms
Söders Haschpfeifen
Schwaches Hintergrundrauschen
Stephen Hawking
Swingin‘ Herby
Sultan Heinrich
Störenfriedliche Hirngespinste
Schwarzer Humor
Sinnlose Haltbarkeit
Stimmungsvolle Hits
Sensible Haudegen
Schicke Hosenträger
Schöner Hut
Sternenreiches Himmelszelt
Segel hissen
Su heiraten
Semimagnetische Halbleiter
Schieß, Haaland!
Springende Hürdenläufer
Schlackernde Hoden
Spektakuläre Highlights
Stand heute
Shit happens
Schnelle Haubentaucher
Strombetriebene Heugabeln
Samstags Hackbraten
Stille Hoffnung
Schmucke Hochseejachten
Singende Herrentorte
Schneiders Helge
Schwelgende Herzen
Steifbeinige Hochseilartisten
Serielle Horizontalrücklaufintervalle
Schwankende Hängebrücken
Saulustige Hamster
Suspendierte Hippies
Schwimmende Hausmeister
Sensorgesteuerte Helligkeit
Sandfarbene Hochhäuser
Sinnvolle Hebebühnen
Schlafmützige Hinterwäldler
Schlafendes Hotelpersonal
Schwächelnde Halunken
Schwielige Handflächen
Supermans Honorarforderungen
Seltene Hieroglyphen
Spendable Hochstapler
Schwebende Heißluftballons
Steigende Hubschrauber
Sinkende Helikopter
Sauertöpfische Heiratsschwindler
Saufende Heimwerker
Strandende Haie
Salzige Heringe
Schnittige Hondas
Sherlock Holmes
Sam Hawkens
Scharfe Hereingaben
Seppls Hosen
Steppende Helden
Schwindelerregende Höhen
Sicherer Handelfmeter
Spiegelverkehrter Heiligenschein
Schmackhafte Halspastillen
Sensationelle Hochstimmung
Schneebedeckte Hügel
Schwule Heideröschen
Syndesmosebandrißgeschädigte Hupfdohlen
Stummes Helau
Starker Herkules
Seekranke Hummer
Süffiger Himbeergeist
Sardonisches Hohngelächter
Spontanes Hin-und-her
Sturzgefährdete Hochradfahrer
Steinige Holzwege
Signifikante Hinweise
Strapazierte Henkeltassen
Sauce hollandaise
Schwerverdauliche Haselnußschalen
Schlüpfrige Heimkinofilmchen
Stolpernde Hochzeitsgäste
Stolzierende Hähne
Spätes Heimkommen
Schreckhafte Hexen
Samtblaue Hydranten
Stinkreiche Hausierer
Substrahierte Hunderter
Sonniges Heidelberg
Stundenlange Höchstgeschwindigkeit
Staubtrockener Honigkuchen
Schnabelförmige Hufeisen
Steriles H2O
Sture Hornochsen
Stagnierendes Holozän


Erinnerungen an Willi Kissmer

Heiligabend 2018

Am 27. Juli dieses Jahres ist der Duisburger Künstler Willi Kissmer gestorben. In den 70er Jahren war er als Gitarrist der Folkrockband Bröselmaschine in Erscheinung getreten, bevor er sich in den 80ern fast ganz der Malerei widmete, die ihm mit Einzelausstellungen in verschiedenen Ländern Europas und in den USA auch überregionale Anerkennung bescherte.

Willi ist, nachdem ich ihn 1971 zum ersten Mal auf der Bühne erlebt habe, sofort zu meinem Duisburger Lieblingsgitarristen aufgestiegen, den ich wegen seiner so andersartigen Leadgitarrenspielweise [er war mehr von Folkrock-Gitarristen wie Richard Thompson und Jerry Donahue als von Chuck Berry oder Jimi Hendrix beeinflußt] sehr bewundert habe und unbedingt auch mal persönlich kennenlernen wollte. Und diese Gelegenheit ergab sich schließlich im Sommer 1973, als Willi 21 und ich 19 Jahre alt war.
xxxxxIch saß mit ein paar Typen im Kantpark herum, als Peter Bursch des Weges kam und uns fragte, ob nicht jemand beim Tapezieren seiner neuen Wohnung helfen wolle. Ich fragte zurück, wer denn sonst noch dabei sei, und als die Antwort Willi Kissmer lautete, sagte ich sofort zu. Geld gab’s keins, aber Willi kennenzulernen war Belohnung genug für mich.
xxxxxUnd zwei oder drei Tage später ging es los, und Willi und ich (die beide keine Ahnung von der Sache hatten) bekamen den Auftrag, das Schlafzimmer zu tapezieren. Am schwierigsten war die Zimmerdecke. Und weil dabei alles mit über dem Kopf hochgereckten Armen zu geschehen hatte, machte uns das ziemlich zu schaffen, und so beschlossen wir, daß es viel leichter sei, die Tapetenenden sich überlappen zu lassen, anstatt zu versuchen, alles nahtlos aneinanderzufügen. Das klappte dann auch viel besser, hatte nur optisch wohl einen gewissen Haken, so daß Peter beim Begutachten unserer geleisteten Arbeit nicht gerade in einen Freudentanz ausgebrochen ist – doch was konnte man von ungelernten Für-lau-Arbeitskräften auch schon groß erwarten? Bei Peters nächstem Umzug bin ich dann nicht mehr um Hilfe gebeten worden (gut so!), aber ich hatte Willi Kissmer kennengelernt, und dieser Kontakt ist bis zu dessen Tod erhalten geblieben.


Musik (1)

In meiner Musikantenzeit habe ich live auf der Bühne mit mehr als 200 verschiedenen Musikern zusammengearbeitet, und Willi hat zu den allerersten gehört [nach Tom und Zoppo von „Scarabäus Zubiss“, Kalle und Lucky von „Ausz“ und Leslie Förster, bevor er bei „Alma Ata“ war]. Und mit insgesamt 35 gemeinsamen Auftritten (der letzte fand 2016 statt) ist Willi in der Pelikan-Musikerliste auch heute noch in den Top 10 zu finden.

Einige Monate nach unserer Tapezierkünstlererfahrung sollte am 24. November 1973 mein zweiter öffentlicher Auftritt bei einem kleinen Festival in der Aula des Clauberg-Gymnasiums in Duisburg-Hamborn über die Bühne gehen. Die Top Acts des Abends waren die elektrischen Rockbands „Dhun“, „Atropos“ und „Ausz“, während ich als Solist zwischendurch mal einen etwas kleineren Set abliefern sollte. Ich hatte ein halbstündiges Programm für akustische Gitarre mit eigenen Liedern vorbereitet, doch als ich dann den Soundcheck machte, erwies sich die Übertragungs-Anlage als total überfordert und produzierte so viel Gitarren-Rückkopplung [außer wenn ich ganz hinten auf der Bühne saß, wo dann aber das Gesangsmikrophonkabel nicht mehr hinlangte], daß ich kurzerhand alles auf E-Gitarre umstellen mußte. Allerdings konnte ich mein erarbeitetes Programm nun nicht mehr aufführen, da akustische Lieder mit E-Gitarre gespielt ein ganz anderes Arrangement benötigen, und so bat ich Willi, der eigentlich nur als Zuhörer anwesend war, um Hilfe. Und während die erste Gruppe den Saal beschallte, fuhr er noch mal los, um seinen AC-30-Verstärker zu holen [die E-Gitarre hatte er für alle Fälle sowieso immer im Auto], und dann spielten wir als Duo einfach zwei pelikanesische Bluessongs und machten danach noch eine improvisierte Jam-Session mit Kalle Burandt (Baß) und Lucky Ruhnau (Schlagzeug) von Ausz zusammen. Und das war dann mein erster Auftritt mit Willi Kissmer.


Anderes (1)

In den folgenden drei Jahren hat es zwar keine weiteren gemeinsamen Gigs mehr gegeben, doch sind Willi und ich uns in dieser Zeit häufiger in der Stadt über den Weg gelaufen (im 1974 eröffneten Eschhaus zum Beispiel), und ich habe ihn auch mehrfach zu Hause besucht.

1975 gab es zwei besondere, mit Willi zusammenhängende Ereignisse. Zum einen hat er sich (was mich damals wirklich mit Stolz erfüllte) für die Studioaufnahmen zur zweiten Bröselmaschine-LP meine elektrische „Gibson Les Paul“-Gitarre ausgeliehen (um neben seiner „Fender Telecaster“ auch noch einen anderen Gitarrensound zu haben), und zum anderen habe ich in diesem Jahr einen echten Kissmer erworben (für 150 DM), der auch heute noch die Wand meines Arbeitszimmers schmückt. Auf dieser Lithographie ist Willis damalige Freundin Imke zu sehen, in deren beste Freundin Beate [die später Willis Model und Ehefrau werden sollte] ich mich 1976 auch mal zu verlieben gewagt habe, obwohl ich damals viel zu große Probleme mit mir selber hatte, um für eine richtige Beziehung tauglich zu sein. Willi, Imke und Beate (die von meinen Gefühlen für sie wußte, nur mit meiner zurückhaltenden Untätigkeit nichts Rechtes anfangen konnte) haben mich in jener Zeit auch mal eingeladen, einige Tage mit ihnen zusammen auf Texel zu verbringen, doch hatte ich viel zu viel Angst vor möglichen Konflikten oder Entscheidungen, so daß ich es doch ausgeschlagen habe, um anschließend umso selbstmitleidiger meiner mir unmöglichen Liebe nachzuhängen. [Ich bin damals ein ziemlich verklemmter, problembeladener und selbstbewußtloser Bursche gewesen.]


Musik (2)

Anfang Januar 1977 spielte ich (bereits zum dritten Mal) eine ganze Woche lang im Folkklub „Bob’s Stage“ in Hemmerden (einem Ortsteil von Grevenbroich), wo Willi, Imke und Beate eines Abends überraschend auftauchten, was in der Folgezeit zu neuerlichen gemeinsamen Auftritten mit Willi geführt hat, die genau dort begannen, wo unsere Bühnen-Zusammenarbeit drei Jahre und zwei Monate zuvor geendet hatte:
xxxxxAm 21. Januar 1977 im Clauberg-Gymnasium [wo ich erstmals auch den in der Bob’s-Stage-Woche geschriebenen neuen Song „Away from you“ für Beate vorgetragen habe, der zufälligerweise auch auf meiner im kommenden Jahr erscheinenden CD „Im Bann der Subdominante“ zu hören sein wird. / Nachtrag vom Oktober 2021: Die oben genannte CD ist leider immer noch nicht erschienen, allerdings auch immer noch nicht ganz aufgegeben. Doch wenn es im kommenden Jahr nix wird mit der Veröffentlichung, dann wird man das Teil wohl ein für alle Male vergessen können. Hoffen wir das beste.]
xxxxxund am 25. Januar und 15. Februar in Bob’s Stage, wo diesmal Ramesh Weeratunga und Francis Serafini (die ich bei meinem Berlinaufenthalt 1974 kennengelernt hatte) die Wochenattraktionen waren.

Im selben Jahr ging es bei mir auch mit Bands los: Im Mai ’77 starteten die „Sheffield Shakers“, aus denen sich im August „Lucky Mac, Happy Mac und die Anderen“ entwickelten, welche am 1. Januar 1978 (um 0:01 Uhr live im Eschhaus) in „Duisburg City Rock ’n‘ Roll All Stars“ umbenannt wurden. Und Willi ist ein All-Stars-Fan der allerersten Stunde gewesen [er mochte meine inzwischen deutlich verbesserte Bühnenpräsenz (auch wenn ich, wie er mal sagte, bewegungs- und gesangstechnisch nicht gerade ein zweiter Mick Jagger war), und er liebte Schnuffs Baßspiel], der auch schon beim ersten offiziellen Lucky-Mac-Gig im November ’77 als Special Guest Mac dabeiwar.
xxxxx8 Monate und 17 All-Stars-Auftritte später hatte unser Leadgitarrist Congo Johnson dann die Nase voll von dem Dauerstreß mit zwei parallel laufenden Rockgruppen, so daß er [nach unserer ersten Marburg-Tournee, die eigentlich nach Norwegen hatte führen sollen – was aber eine ganz andere Geschichte für einen ganz anderen Beitrag ist]) die All Stars verließ, um fortan wieder das doch etwas ruhigere Fahrwasser seiner Leib-und-Magen-Band „Menthol“ genießen zu können. Für den dadurch frei gewordenen Posten hatte unsere Band nur einen einzigen Wunschkandidaten: Willi Kissmer! Der zu unserem größten Bedauern aber ablehnen mußte, weil er gerade beschlossen hatte, seine Zukunft nur noch in der Malerei zu sehen und keine Zeit mehr an regelmäßig probende und auftretende Bands zu verschwenden. Bis zum Jahresende hat er uns (weil wir immer noch keinen Gitarristen gefunden, bzw. den ersten Nachfolger schon wieder gefeuert hatten) aber noch zweimal ausgeholfen: beim 2. OTZ-Festival im Eschhaus und beim legendären Gig im Knast in Duisburg-Hamborn zwei Tage vor Silvester. [Wir hatten dort eigentlich für lau spielen sollen, doch war die Anstaltsleitung aufgrund unseres absolut begeisternden Auftritts (der im Publikum so viel euphorische Stimmung und Energie erzeugt hatte, daß ich zwischenzeitlich tatsächlich in Sorge war, daß die Knackis gleich die Wachen überwältigen und den Laden auseinandernehmen würden: Riot in Cell Block #9 und so) wohl der Meinung, daß wir viel zu gut seien, um wie eine kleine Anfängerband ohne Gage davonkommen zu dürfen, so daß wir im Nachhinein noch vollkommen unerwartet mit 300 DM entlohnt worden sind. Ist eine wahre Geschichte!]

Nach einer knapp zweijährigen und wirklich tollen Zeit mit den Duisburg City Rock ’n‘ Roll All Stars wollte ich Ende 1979 dann eine eigene Band mit ausschließlich eigenen Liedern auf die Beine stellen, und als ich das Willi gegenüber mal erwähnte, sagte er, daß er gerne mitmachen würde [offenbar hatte er seine Meinung in bezug auf die Vergabe seiner Zeit geändert], und das ließ ich mir natürlich nicht zweimal sagen. Und so haben wir 198o einige Monate lang in der Besetzung Willi Kissmer (Gitarre), Dieter Stein (Baß), Mike Gosen (Schlagzeug) und Pelikan (Gitarre, Gesang) geprobt, bis Willi eines Tages sagte, daß er irgendwann im kommenden Jahr nach Hamburg ziehen würde; und weil es unlogisch war, bis dahin noch mit ihm weiterzuarbeiten, sah ich mich lieber gleich nach einem neuen Gitarristen um, so daß das Bandkapitel mit Willi und mir nach weniger als einem halben Jahr leider schon wieder beendet war. – Was ich damals natürlich nicht ahnen konnte, war, daß Willis Pläne mit Hamburg sich zerschlagen sollten und er nie aus Duisburg weggegangen ist. Tja…
xxxxx[Meine Band (zu Willis Zeiten noch „Hot Rod and the Rubber Rats“ geheißen) feierte ihre Live-Premiere aufgrund diverser Umbesetzungen erst rund 20 Monate später unter dem Namen „Al & the Hollywood Rats“,  featuring Mike Gosen (Schlagzeug), Schnuff (Baß), Arenor Meyer (Leadgitarre) und Pelikan (Gitarre, Gesang). Arenor wurde ein Jahr später dann noch durch Manni „Slowfoot“ Roßmann ersetzt.]


Worte
und Wohnungen

Obwohl Willi nie mit den Hollywood Rats zusammen auf der Bühne gestanden hat, ist er dennoch auf eine spezielle Art bei jedem Auftritt dabeigewesen, weil ich es mir bei einer meiner schrägsten Nummern [dem Titelsong der CD „Welcome to Chilligoo“] einfach nicht hatte verkneifen können, ein Mädchen an einer Stelle mal „Kiss me, Kissmer!“ sagen zu lassen. Und eine Strophe später noch: „Ooh, kiss me again, Kissmer!“
xxxxxAber auch vorher war Willi schon in anderen Pelikan-Songs erwähnt worden. So 1978 in „Singing for you“ [das auf der CD „The Wizard of OTZ“ zu hören ist], und 1977 in „Colours I“: „So if Joni comes along with a brand new song, call three times a three and a seven six five and tell Willie who did arrive“. – Willi war damals ein großer Joni-Mitchell-Fan, und seine Telefonnummer lautete 333 765.
xxxxxUnd in dem im Januar 1980 verfaßten Song „The Story Of The Duisburg City Rock ’n‘ Roll All Stars“ hatte jeder Gitarrist eine eigene Strophe bekommen, so natürlich auch Willi:

Our third guitarist was my old friend Willie
he played as good as we thought he would
and we wanted him to stay but had no cash to pay
so we promised him a lot of girls for every day
but our next performance was in the city-jail
and Willie said: not with me, you’re telling me a tale

So bye-bye, Willie, bye-bye
bye-bye, Willie, bye-bye
it’s alright, Willie
get a brush and paint your pictures of Lily

Willi Kissmer (1951-2018) als „Galaktischer Gigant“, 1991 (Foto: Harald Binder)

Außer selbstkomponiert- und -getexteten Liedern hat es (ab 1974) aber auch noch ein paar in Kleinauflagen herausgebrachte pelikanesische Prosabände gegeben, in denen Willi [abgesehen von den Erwähnungen in den zwischen 1974 und ’76 erschienenen drei Ausgaben des Pelikan/Scharmachschen Lexikons: „Kissmer, Willi – Gitarrenkünstler, AC-30-Fan & mehrfacher Lieblingsstar“] erstmalig im 1978 veröffentlichten „Was ich noch wagen sollte oder Was ich noch sagen wollte“ auftauchte. Und zwar auf Seite -2 (sprich: minus zwei) ganz vorn im Klappentext zu dem Buch, der sich allerdings auf ein ganz anderes Werk eines ganz anderen Autoren bezieht. Und weil dieses andere Buch aus einer Sammlung von Filmdrehbüchern oder Theaterstücken zu bestehen scheint, ist in dieser Klappentexteinleitung als exemplarisches Beispiel auch mal eine kleine Besetzungsliste aufgeführt, die angeblich aus dem Script „Flußpiraten in Paris“ stammen soll:
Pete Kissmer als Kulisse,
Willi Bursch als Frank Zappa,
Liz Taylor als Imke,
Eddie Constantine als Willi Kissmer,
Tisch als Stuhl,
Beate Uhse als 10 Girls
& M. Gosen als Gugelhupf.
xxxxxUnd mehr als die Hälfte dieser Angaben hat Willi beigesteuert, als wir bei ihm zu Hause mal ein wenig rumgesponnen haben. [Und obwohl ich damals überhaupt nicht wußte, wer oder was M. Gosen war oder sein sollte, habe ich die Gosen-als-Gugelhupf-Formulierung einfach abgedruckt. Und zwei oder drei Jahre später ist ebendieser Mike Gosen dann (auf Willis Vorschlag hin) Schlagzeuger in meiner Band geworden. Ob es aber mal eine ihn betreffende Geschichte mit einem Gugelhupf gegeben hat (ich selbst denke bei Gugelhupf immer an Frau Waas von Jim Knopf und Lukas), habe ich nie in Erfahrung gebracht.]
xxxxxUnd auch der Titel dieses imaginären Theaterstücks hatte einen Bezug zu Willi. Als wir uns mal über Lieblingsbücher aus unserer Jugendzeit unterhielten, nannte er nämlich [während es bei mir hauptsächlich Karl-May-Romane gewesen waren] das mir (bis heute) vollkommen unbekannte „Die Flußpiraten des Mississippi“ von Friedrich Gerstäcker. (Und einige Jahre später hat er auch „Gullivers Reisen“ noch als ein frühes Lieblingsbuch bezeichnet.)
xxxxxIn meinem danach folgenden nächsten Prosawerk („Herzlichen Glückwunsch“ von 1982) wird in den fast vollständig erlogenen Angaben zur Vita des Autors auch mal Pelikans Eheschließung mit einer gewissen Elisabeth Kissmer erwähnt – bei der ich mir immer eine (in Wahrheit nicht existierende) Schwester von Willi vorgestellt habe.

Ich hatte Willi immer sehr gern besucht, weil ich ihn einerseits sehr schätzte und mich andererseits in seinen Wohnungen [Neue Marktstraße, Liliencronstraße, Felsenstraße, Heckenstraße und Lenzmannstraße] immer sehr wohl gefühlt hatte, da sie ein auf mich sehr anziehendes künstlerisches Ambiente ausstrahlten und von einer Freiheit kündeten, die ich in meinem eigenen Zuhause (damals immer noch bei meinen Eltern wohnend) doch etwas vermißt habe.
xxxxxAm besten in Erinnerung habe ich aber Willis 1989 erworbenes ganz besonderes Eigenheim, den alten Hebeturm in Duisburg Homberg. In den 1990er Jahren bin ich mindestens einmal im Jahr in diesem 1854 errichteten und mit 5 oder 6 Etagen ausgestatteten altehrwürdigen Gemäuer zu einem Musikhör-, Laber- und Schachspielabend zu Gast gewesen, und irgendwann stand sogar mal die Frage an, ob ich nicht als Mieter dort einziehen sollte, doch haben mich vor allem finanzielle Gründe und die für mich als Fahrradfahrer [ich habe ja nie einen Autoführerschein besessen] nicht gerade optimale Lage dann doch davon abgehalten.
xxxxxIm neuen Jahrtausend habe ich es nur noch alle paar Jahre mal zu Willis Turm geschafft (zuletzt im März 2017), wohl auch, weil er nach Erwerb seines französischen Zweitdomizils in den wärmeren Jahreszeiten (also in den angenehmeren Fahrradfahrmonaten) fast immer fort war. Ich bin von Willi und Beate zwar auch mehr als einmal nach Frankreich eingeladen worden, doch haben mich meine im Alter immer ausgeprägter gewordene Reiseunlust und meine hasenfüßigen „Was mache ich, wenn ich mich dort nicht wohl fühlen sollte?“-Gedanken immer davon abgehalten. [Und diese meine Ängstlichkeit stellt ein gutes Stichwort für das nächste Kapitel dar.]


Willi als Freund

Willi und ich haben in den vergangenen 45 Jahren zwar auch manchmal ein paar tiefschürfende Gespräche geführt, doch haben wir einander nie sehr gut gekannt. Und das hat vor allem an mir gelegen, weil ich (früher) einfach ungeheuer verschlossen gewesen bin und nie (auch meinem besten Freund gegenüber nicht) den Mut aufgebracht hatte, jemandem von meinen größten Ängsten zu erzählen. Eigentlich bin ich ja nicht mal fähig gewesen, mir selber davon zu erzählen, weil ich seit frühester Jugend schon dazu übergegangen war, mir schwierige und unangenehme Sachen möglichst aus dem Sinn zu schaffen, indem ich gedanklich komplett den Kopf in den Sand gesteckt und alles lieber zu verdrängen als daran zu arbeiten versucht habe. Und Willi hatte natürlich mitbekommen, daß da einiges mit mir nicht in Ordnung war, doch weil ich keine Anstalten machte, mich ihm gegenüber mehr zu öffnen, hat er mich auch nie dazu gedrängt.
xxxxxWilli hatte (im Gegensatz zu meinem besten Freund) aber einen großen Vorteil: er war eben nicht mein bester Freund und versuchte mich deshalb auch nicht aus höflich/freundschaftlicher Nachsicht oder so eher zu schonen. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie ich ihm gegenüber mal erwähnte, daß ich ja gar nicht besonders viel Geld zum Leben bräuchte und auch in höherem Alter mit ein paar regelmäßigen Auftritten einigermaßen über die Runden kommen sollte, als er mir deutlich widersprach und mir vorrechnete, daß ich, bevor ich mir überhaupt irgendwas zu essen kaufen könne, erst mal Geld für Miete, Strom, Wasser, Krankenversicherung und ähnliches abzudrücken habe. Solche Worte wollte ich damals allerdings überhaupt nicht hören, und die haben mir an jenem Tag dann auch ziemlich die Laune verdorben, weil sie mir wieder mal unerbittlich vor Augen geführt haben, wie wenig ich für die Realität, fürs wahre Leben und so, doch gerüstet war. Doch daß Willi es mit seiner Aussage nur gut gemeint hatte und mich nicht einfach nur verletzen wollte, war mir trotz allem aber vollkommen bewußt.

Zu Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre ging es mir – trotz musikalischer Anerkennung von vielen Seiten – manchmal ziemlich schlecht, und Willi und Birgitta [schönen Gruß nach Wiesbaden!], meine damaligen besten Nicht-besten-Freunde, haben mir (unabhängig voneinander) in jener Zeit mehrfach klarzumachen versucht, daß ich etwas ändern sollte an meinem Leben, daß ich mich nicht immer nur bei meinen Eltern vergraben und vor dem Erwachsenwerden auf ewig verstecken könne.
xxxxxTagebucheintrag vom Februar 1982: „Und dann hat Willi mich mal wieder mit vollkommen überzeugenden Argumenten zum Thema leben, wagen, riskieren, sich verändern und so ziemlich fertiggemacht.“

[Fast 20 Jahre später habe ich Willi mal wegen eines persönlichen Problems um Rat gefragt und eine ganz unerwartete, salomonisch anmutende Antwort von ihm bekommen, doch habe ich mich jetzt (einen Tag vor der Veröffentlichung dieses Beitrags) dazu entschlossen, doch nicht näher auf die Details dieser Angelegenheit einzugehen, weil sie ein schlechtes Licht auf einen anderen Musiker werfen würden. Und mein ursprünglicher Schlußsatz dieses Abschnitts hatte sinngemäß gelautet, daß solch ein Verhalten (wie bei der anderen Person) bei Willi undenkbar gewesen wäre, weil er ein sehr gutes Gespür dafür hatte, worauf es bei Freundschaft wirklich ankommt.]

Ich habe Willi immer für einen sehr integren und ehrlichen Menschen gehalten, doch zumindest einmal bin ich doch der Meinung gewesen, daß er – schmunzel, schmunzel – etwas zu ehrlich gewesen ist. Als ich ihm in den 70er Jahren zum Geburtstag mal meinen damaligen Lieblingsakkord „geschenkt“ habe [ein durch Zufall entdecktes, im 5. Bund zu greifendes, verträumt-romantisches Amadd9], guckte er nur kurz hin und sagte trocken: „Kenn ich schon.“ Da wäre mir eine kleine Freundschaftslüge denn doch lieber gewesen.


Anderes (2)

Zum reichhaltig bestückten pelikanesischen Ängste-Arsenal gehörte auch die Sorge, bei (vor allem größeren) Anschaffungen nicht das Richtige zu wählen und mich am Ende wie ein totaler Trottel zu fühlen. Weil ich hin und wieder aber doch mal eine neue Gitarre oder einen neuen Verstärker benötigte, brachte mich das jedesmal in gewisse Nöte, da solch ein Kauf für mich aufgrund meiner finanziellen Lage [ich hatte ja keinen Job, der eine stete Einnahmequelle für mich darstellte] auch immer eine enorme Geldausgabe bedeutete, so daß ich deshalb noch mehr Angst vor einer Entscheidung hatte, weil es ja die falsche sein könnte. Und weil ich Willi so einschätzte, daß er mit derartigen „Problemen“ nichts am Hut hätte und immer wüßte, was er täte, habe ich mir in den 80ern einmal den gleichen Gitarren-Amp und in den 90ern einmal die gleiche Gitarre wie er zugelegt, obwohl letzteres dann doch nicht das gewünschte Ergebnis geliefert hat. Als ich Willi 1995 mal besuchte, war er gerade stolzer Besitzer einer brandneuen akustischen Westerngitarre geworden, deren Klang ich wirklich großartig fand, und weil ich nach 25jährigem Nylonsaitengitarrenspiel beschloß, mich noch einmal einer neuen Herausforderung zu stellen (da das Spielen auf einer Stahlsaitengitarre doch etwas anders ist), besorgte ich mir dasselbe Modell wie Willi und dachte, damit nicht falschliegen zu können. Doch stellte sich im direkten Vergleich leider heraus, daß der Klang doch hörbar anders war; mein Instrument klang zwar nicht schlecht, war aber längst nicht so warm und voll im Ton wie Willis Exemplar. Und um mich zu trösten sagte er dann scherzhaft, daß er mir seine Gitarre ja testamentarisch vermachen könne. Was mich heute, selbst wenn es damals ernst gemeint gewesen wäre, aber auch nicht gerade fröhlich stimmen würde.

Daß sich meine finanzielle Situation mit über 30 schließlich doch noch etwas positiver gestaltet hat, habe ich indirekt übrigens Willi Kissmer zu verdanken. Er hatte sich Ende der 70er Jahre ja dazu entschlossen, das Musikmachen ziemlich hintanzustellen und statt dessen zu versuchen, ganz von seiner Malerei zu leben, was dann auch zu funktionieren schien, so daß er Ende 1983 auch seine vier Volkshochschulgitarrenkurse aufgeben konnte, die ihm bis dahin ein willkommenes Zubrot beschert hatten, nun aber doch mehr einen eher lästigen (da zeitraubenden) Klotz am Bein darstellten. Und ich war dann der Glückliche, der diese vier Kurse ab Januar 1984 übernehmen konnte, was aber ein Zufall und nicht etwa von Willi in die Wege geleitet worden war.
xxxxxDie namhafte Konkurrenz im eigenen Hause (nämlich Peter Bursch) war für zwei meiner (im selben Stadtteil wie seine laufenden) neuen Gitarrenkurse aber wohl doch etwas zu groß, so daß sie nach nur drei Semestern wieder eingestampft werden mußten, während die anderen beiden ehemaligen Kissmer-Kurse in Duisburg Buchholz noch 16 Jahre lang unter meiner Leitung weiterexistierten, bevor sich im Duisburger Süden dann ebenfalls nicht mehr genügend Teilnehmer dafür fanden. Doch wurde die Lücke rasch durch den für mich neuen Standort Rheinhausen geschlossen, während ich in Stadtmitte längst auch schon die ehemaligen Burschkurse übernommen und ausgebaut hatte. Aktuell sind pro Semester acht pelikanesische Gitarrenkurse an der Duisburger Volkshochschule im Angebot, die ich – trotz erreichtem Rentenalter von 65 Jahren (nur leider ohne nennenswerte Rente) – auch noch lange nicht aufzugeben gedenke. Willi hat mir mal gestanden, daß er nie so lange wie ich hätte durchhalten können, weil ihn das Unterrichten nie wirklich befriedigt habe, doch habe ich einfach das Glück gehabt, nach 15 bis 20 Jahren noch meine inzwischen erblühlte große Liebe zu dieser Tätigkeit zu entdecken, als ich merkte, wieviel Spaß ich daran hatte, immer noch dazuzulernen und auf diesem Wege auch immer noch besser werden zu können.


Musik (3)

In den 80er Jahren gab es außer einer Eschhaus-Heiligabend-Session nur noch einen weiteren Auftritt mit Willi zusammen, der dafür aber um so schöner war. Im August 1988 feierte ich mein erstes großes Bühnenjubiläum [das auf der CD „Showtime in Neumühl“ verewigt ist] mit Scarabäus Zubiss, den neuen (diesmal deutschsprachigen) Hollywood Rats und den (nur für diesen Abend noch einmal zusammengestellten) Duisburg City Rock ’n‘ Roll All Stars, letztere mit Willi Kissmer. Und auch wenn Willi damals seit Jahren schon nicht mehr in einer Band gespielt hatte, hatte er das Gitarrespielen nicht verlernt, wie das nachfolgende kleine Klangbeispiel von diesem Abend belegen dürfte.


Willi Kissmer on lead guitar:

willisolo.mp3

 

Eine bestimmte Sache bei diesem Auftritt werde ich nie vergessen: Willi sollte das Solo bei „Under My Thumb“ spielen, und weil dessen Länge nicht vorgegeben war, sollte er mich ansehen, wenn er damit zu Ende war, weil wir danach sogleich in den andersakkordfolgigen [wat is’n dat für’n Wort?] Refrain gehen wollten. Also, Willi begann sein Solo und blickte in meine Richtung, stierte die ganze Spielzeit über genau durch mich hindurch, weil dieser stiere Blick halt Willis Art war, sich beim Leadgitarrespielen zu konzentrieren. Den Einstieg in den Refrain haben wir dann [wie auf der CD deutlich zu hören ist] auch fröhlich versemmelt, doch war das gar nicht so schlimm, weil der Rest der Nummer nämlich echt prima war (wie die anderen Songs mit Willi auf dieser CD übrigens auch).

1990 hatte in Duisburg eine neue Kneipe namens Steinbruch eröffnet, die in ihrer Anfangszeit dermaßen schlecht lief, daß der Pächter eines Tages den Schlagzeuger Lucky Ruhnau fragte, ob dieser nicht mal mit einer Band dort Musik machen könne, um den Laden ein wenig bekannter zu machen. Und weil Lucky damals gerade keine Gruppe hatte, trommelte er einfach ein paar seiner aktuellen Lieblingsmusiker zusammen, und so kam es zum ersten Auftritt der „Galaktischen Giganten“, die bei ihrem Debut aus sieben Leuten bestanden, von denen vier Gitarre spielten: Greg Henley, Holger Karen, Willi Kissmer und Pelikan. Diese Session-Band [deren Maxime es zu meinem Leidwesen war, nie zu proben] blieb dann bis 1998 in immer wieder leicht variierenden Besetzungen zusammen und spielte 2016 noch einmal [diesmal aber mit vorheriger Probe: Hurra!] groß beim Lucky-Day-Konzert im Grammatikoff auf, was dann das letzte Mal war, daß ich mit Willi zusammen auf einer Bühne gestanden habe. Damals war bei ihm schon Krebs festgestellt worden, doch als ich ihn ein Jahr später zum letzten Mal in seinem Turm besuchte, schien es ihm noch ganz gut zu gehen. Er machte allerdings (auch in den paar noch folgenden Telefonaten) immer wieder mal Andeutungen darüber, daß seine Zeit wohl nicht mehr ewig währen würde.
xxxxxZwei Tage vor seinem Tod hätte ich ihn mit einem Freund zusammen noch mal im Hospiz besuchen können, doch hatte ich zuviel Angst davor und habe mich am Ende einfach nicht getraut. Mein Freund erzählte mir später, daß das wahrscheinlich auch ganz gut so gewesen sei, weil diese zuletzt nur noch Hülle eines Menschen nicht mehr viel mit dem Willi, den wir beide kannten und liebten, zu tun gehabt hätte.

Eine kleine Anekdote habe ich noch: Irgendwann in den 90er Jahren war ich bei Willi zum Schachspielen, als das Telefon klingelte. Willi nahm ab:
xxxxx„Kissmer.“
xxxxxJemand wollte in Erfahrung bringen, wie teuer seine Bilder seien.
xxxxxWilli: „Ab 5000 DM aufwärts.“
xxxxxUnd drei, vier Sekunden später sagte Willi: „Hallo? Sind Sie noch dran?“
Und ich werde niemals Willis Gesichtsausdruck dabei vergessen, der am besten als Mischung aus leicht überrascht und spitzbübisch amüsiert wiedergegeben werden kann, während ich dabeigesessen habe und ziemlich stolz darauf gewesen bin, einen Künstler, dessen Bilder ab 5000 DM [einer Summe, die fast der Hälfte meines damaligen Jahresgehalts als Gitarrenlehrer entsprach] aufwärts gehandelt wurden, persönlich zu kennen und sogar als Freund bezeichnen zu können.

Am heutigen 24. Dezember wäre Willi Kissmer 67 Jahre alt geworden.


Erinnerungen rund um Motte

Vorbemerkung:
……….Motte hat meiner Meinung nach nicht zu den wirklich bedeutenden Duisburger Künstlern gezählt, so daß eigentlich auch kein Nachruf-Denkmal nötig gewesen wäre. Doch weil ich mit ihm in den 1970er Jahren fast so was wie befreundet gewesen bin, habe ich mich aus dieser alten Verbundenheit heraus entschieden, etwas auf dieser Webseite über ihn zu schreiben, das gleichzeitig auch einen Teil meiner eigenen Geschichte darstellt.

 

Am 18. März 2018 ist Carl Korte – einigen Duisburgern besser unter dem Namen „Motte“ bekannt – im Alter von 65 Jahren gestorben.

 

Motte im Juli 1977 (Foto: Schnuff)

 

Motte ist am 13. August 1952 geboren worden und auf der Gärtnerstraße in Duisburg Wanheimerort bei seiner Mutter aufgewachsen. Einen Vater hat er nie gekannt. Er erzählte mir mal, daß er als Kind auf einer Veranstaltung gewesen sei, bei der auch ein Zauberer aufgetreten wäre. Und Jahre später hätte seine Mutter ihm mitgeteilt, daß dieser Zauberer sein Vater war.
……….Eine schöne Legende – oder eine schön ausgedachte Geschichte (Motte hat nämlich häufig ein wenig gesponnen) –, die später auch in der Kurzbiographie eines seiner Bücher ihren Widerhall fand: „Motte, Sohn eines Magiers“.

Ich wurde gezeugt zu Vaters Vergnügen,
Mama war zu schwach und mußte sich fügen,
so hat sie empfangen ohne zu geben,
und ich durfte leben.

……….[Aus „Lebenslauf“, 1971]

 

M U S I K

Zum erstes Mal sind Motte und ich uns im Dezember 1970 über den Weg gelaufen. Ich spielte damals seit einem Monat in einer kleinen Band, die aus Manni Schmitz am Gesang, Pete Eckardt an der elektrischen Leadgitarre, Klaus „Zoppo“ Bausen am Schlagzeug und mir selbst [siebzehn Jahre alt und erst seit vier Monaten mit Gitarrespielen beschäftigt] an der akustischen Rhythmusgitarre bestand. Die Proben fanden in einem ehemaligen Hühnerstall im Schmitz’schen Garten in Wanheimerort statt, und ein häufig anwesender Freund der Band, Klaus Barbian, fragte eines Tages mal in die Runde, ob wir nicht vielleicht noch einen Orgelspieler bräuchten. Wir blickten einander kurz an und kamen zu dem Schluß: nein. Ich hab aber einen kennengelernt, der gleich mal vorbeikommen will, gab Klaus zurück, und einige Minuten später stand Motte in der Tür.
……….Die Probe fiel an diesem Tag etwas kürzer aus, weil wir alle noch zur Gärtnerstraße zu Motte nach Hause marschiert sind, wo er uns etwas vorspielen wollte. Da seine Orgel aber gerade irgendwo anders in einem Proberaum stand, setzte er sich zur allgemeinen Verblüffung an ein Harmonium, trat mit den Füßen in die Schöpfpedale (denn ohne Luftzufuhr gab dieses Instrument keinen Ton von sich) und legte los.
……….Ich erinnere mich noch, daß ich das Resultat eher „seltsam“ fand (und so gar nicht nach Goldy McJohn klingend, dem Organisten meiner damaligen Lieblingsband Steppenwolf), doch war das Ganze so selbstbewußt vorgetragen, daß er uns alle etwas beeindruckt hat und aufgrund dessen wohl auch als fünftes Mitglied in die Band aufgenommen worden ist.
……….[Motte ist Autodidakt gewesen und hatte damals erst seit wenigen Wochen Orgel gespielt, in dieser Zeit aber schon einen Auftritt mit einer Gruppe namens „Atrocity Tale“ gehabt.]

Mottes Einstieg in unsere Band hatte Veränderung zur Folge. Musikalisch ging es [Motte war halt kein Bluesmann] immer mehr von „meiner“ Richtung weg, und auch bei den immer häufiger aufkommenden Diskussionen konnten Motte und ich einfach keinen Nenner finden. Da ging es zum Beispiel mal um die Frage, ob man als junger Musiker überhaupt Lieder nachspielen dürfe, um erst einmal die Form dieser Kunst besser verstehen zu lernen, oder ob man Fremdeinfluß möglichst aus dem Weg gehen sollte, um sofort bedingungslos an eigenen Kompositionen zu basteln? Und während ich das Lieder-Nachspielen befürwortet hatte, wollte Motte davon nichts wissen und sich nur auf musikalische Neuland-Pfade begeben.
……….Außerdem befand er, daß wir unbedingt auch einen Baßisten bräuchten, und eines Tages schleppte er tatsächlich schon die Anlage eines solchen an. Es war kaum zu übersehen, daß Motte immer mehr den Ton angab und irgendwie dabei war, die Band zu übernehmen, während ich selbst nur in freundschaftlicher Atmosphäre ein wenig Musik machen und mir nicht schon wieder [wie in der Schule, die ich erst vor kurzem verlassen hatte] von einem „Boß“ etwas vorschreiben lassen wollte, so daß ich (noch bevor ich den Baßisten überhaupt zu Gesicht bekommen habe) nicht anders konnte, als im Januar 1971 meinen Ausstieg zu erklären; weil man mit Motte – den ich immer eher als exzentrischen Solisten denn als mannschaftsdienlichen Team-Player empfunden habe – nur gut zusammenarbeiten konnte, wenn man seine Meinung teilte.

Mein Ausstieg aus der Band sollte aber viel weitreichendere Folgen als gedacht haben, da die Zurückgebliebenen nämlich ebenfalls beschlossen, andere Wege zu gehen, so daß aus nur einer Musikgruppe schließlich zwei ganz neue entstanden sind.
……….Ich selbst hatte mich zum Musizieren weiterhin mit Zoppo (diesmal an den Bongos) getroffen, und nachdem er mich mit dem Gitarristen und Geigenspieler Tom Altrogge bekanntgemacht hatte, haben wir drei im April 1971 das akustische Bluestrio „Scarabäus Zubiss“ aus der Taufe gehoben, das ein ganzes Jahr lang zusammengeblieben ist und in sehr entspannter (= bekiffter) Atmosphäre im Zimmer unseres Freundes Jupp ’ne Menge bluesiger Hausmusik gemacht hat,
……….während Pete und Motte die elektrische Rockband „Kiste II Wildschwein“ auf die Beine stellten [mit Manni Weber (Baß, Gesang) und Andre Pentzien (Schlagzeug, Gesang)], die ausschließlich eigene Kompositionen aufgeführt und recht progressive Musik gemacht hat. Diese Combo hat etwa 9 Monate lang existiert, während Motte im selben Jahr (1971) aber auch noch Mitglied in der „Pelikan Rock-Gruppe“ [ich hatte mit der Band nicht das Geringste zu tun und weiß bis heute nicht, was die sich bei der Namensgebung gedacht haben] und bei „Oxymoron“ [die sich fast ausschließlich aus meinen ehemaligen Klassenkameraden vom Mannesmann-Gymnasium zusammensetzte] gewesen ist. 1973 hat Motte auch noch der ersten Besetzung von „Ausz“ angehört [meiner Duisburger Lieblingsband in den 70ern – die es seit Mai 2016 übrigens wieder gibt], und danach verlieren sich meine Informationen über seine Zugehörigkeit zu lokalen Rockbands, bis er 1978/79 und ’81 seine eigene Gruppe „Mottes Meute“ auf die Bühne brachte.

Auch wenn ich musikalisch mit Motte überhaupt nicht auf derselben Wellenlänge war [was sich auch nie mehr ändern sollte] und deshalb nur sehr selten mit ihm zusammen musiziert habe, haben wir einander in den 70er Jahren doch recht häufig gesehen. Von der Gärtnerstraße bis zum Pelikan-Heim Im Vogelsang war es schließlich auch nicht besonders weit (höchstens 15 Minuten zu Fuß), und als er eines Tages mal anschellte, um mich zu besuchen, öffnete mein Vater die Tür und Motte sagte: „Hallo, ich bin die Motte“. Mein Vater war verwirrt. Er hatte nämlich „ich bin die Mutter“ verstanden.

Motte ist schwul gewesen, und es war bestimmt kein Versprecher, daß er sich bei dieser Gelegenheit mit die Motte vorstellte, obwohl er später auch der Motte benutzt hat. Sein Schwulsein hat mich – nachdem ich mich erst mal an den Gedanken gewöhnt hatte – auch nicht weiter gestört, nur fand ich, daß er manchmal doch etwas zu großes Gewese davon machte und in späteren Liedertexten viel zu sehr den Eindruck zu erwecken versuchte, als wenn er sich in zwielichtigem Halbwelt-Milieu bestens auskennen würde, was ich aber immer nur für Show gehalten habe. Als er irgendwann jedoch auch noch seine pädophilen Neigungen zugab und dann auch noch regelrecht damit anzugeben begonnen hat, habe ich ihm das – da er auch keinerlei moralische Bedenken zeigte – doch schon ziemlich übel genommen.

 

F R Ü H E   P R O S A

Es gibt (bis ins Jahr 2008 hinein) einige Parallelen im Leben von Motte und mir. So haben wir beide 1970 mit dem Musikmachen begonnen, uns beide 1971 an ersten eigenen Liedern mit Text (er auf deutsch, ich auf englisch) versucht und 1974 jeweils unser erstes Prosa-Büchlein auf den Markt gebracht. Meines trug den einfallslosen Titel „4 Kurzbücher, 1 Lexikon und 1 Brief“ und war im Januar 1974 in einer Auflage von 20 Exemplaren erschienen, und Mottes folgte einige Monate später und hatte mit „Titel 1“ einen sogar noch einfallsloseren Namen bekommen, dafür aber einen recht flotten Werbespruch zu bieten: Wenn du nicht mehr weiter weißt, greif’ zum Buch, das Durchblick heißt. Doch war es bei diesem Buch überhaupt nicht so einfach, den versprochenen Durchblick auch wirklich zu entdecken, da die Beiträge (bis auf einen ganz vorne, für den man das Buch – oder sich selbst – zum Lesen aber auf den Kopf stellen mußte) von hinten nach vorne liefen.
……….Es ist in jenen Tagen nicht so leicht gewesen, preisgünstig Texte in kleiner Auflage herauszubringen [wenn man eine bessere Vervielfältigungsqualität als beim inzwischen ziemlich veralteten Hektographieren haben wollte], weil das Fotokopieren beispielsweise (in jenen Vor-Copyshop-Zeiten) noch sehr teuer war: 1 DM für ein einziges Blatt. Also mußten wir, um unsere Werke auf den Markt zu bringen, irgendwo einen auftreiben, der das möglichst umsonst erledigen konnte, was uns schließlich auch gelungen ist. [Mein Freund Nilles ist einige Monate später beim Fotokopieren meines Nachfolgewerkes allerdings von seinem Chef erwischt und auf der Stelle rausgeschmissen worden – doch ist er ohnehin nicht besonders scharf auf diesen Job gewesen.]

Beide sogenannten „Bücher“ sind in Wahrheit aber nur ziemlich dünne Machwerke von 20 [bei Motte] und 30 [bei mir] einseitig kopierten DIN-A5-Seiten gewesen, die mit Heftklammern [bei Motte] und Bindfaden [bei mir] zusammengehalten wurden und wegen ihrer schwarzen Pappumschlag-Cover sehr an alte Klassenarbeitshefte erinnerten. Der Inhalt meines Buches bestand aus ein paar autobiographischen Skizzen sowie einem vierseitigen Minilexikon, in dem Motte mehrfach als Mitglied von ehemaligen Duisburger Bands genannt wurde, und er revanchierte sich, indem auch ich in seinem ersten Buch Erwähnung fand:

……….Brief an Alan S.H. Pelikan
Mein lieber guter Dauerblauer,
aufgrund unserer bisher vorzüglichen Geschäftsbeziehungen (wie Sie sich vielleicht erinnern können, pflegte ich stets, auch in Ihrer Abwesenheit, von ihrem Tabak zu rauchen und von ihrem Whisky zu trinken) bin ich nicht abgeneigt, gegen einen Vorzugsdrink einen Hinweis auf ihr neuestes Werk in meinem Erstling zu publizieren. Es läßt Sie grüßen
……….HONKY TONK MOTTE

Und später hieß es noch:
……….Anzeige:
Alan S.H. Pelikan schreibt ein neues Buch. Hurra!

……….Anmerkung 1: Daran, daß er meinen Whisky in meiner Abwesenheit gesoffen hätte, kann ich mich zwar nicht erinnern, dafür aber an einen Besuch von Harald, Lolle, Buddy und mir bei ihm. Er war zwar nicht zu Hause, doch ließ seine Mutter uns trotzdem in seinem Zimmer auf ihn warten, und wir verlebten dann einen sehr netten Abend, obwohl Motte an dem Tag überhaupt nicht mehr auftauchte. (Hat er darauf vielleicht – einfach alles ins Gegenteil kehrend – angespielt? Würde absolut zu seinem Humor gepaßt haben.)
……….Anmerkung 2: Das Dauerblauer bezog sich auf mein Faible für Bluesmusik, und ein wenig vielleicht auch auf meinen damaligen hin und wieder schon etwas über die Stränge schlagenden Alkoholkonsum, der mir rund 20 Jahre später dann noch enorme Probleme bereiten sollte.

 

L I E D E R M A C H E R

Auch wenn wir beide zu Zeiten der Hühnerstallband noch den großen Traum hatten, später mal als Rockmusiker berühmt zu werden, entdeckten wir ziemlich rasch, daß eigene Lieder zu schreiben noch einen zusätzlichen Befriedigungsfaktor auf der Suche nach Selbstverwirklichung und Anerkanntsein bedeutete. Weil die Art dieser Lieder aber nicht recht zu der rockigen oder bluesigen Musik unserer damaligen Bands paßte, lag es nahe, daß wir eines Tages auch mal als „Liedermacher“ alleine auf die Bühne gehen würden.
……….Mein erster Solo-Auftritt fand [nachdem ich mein Konzertdebüt schon ein halbes Jahr zuvor mit Scarabäus Zubiss gegeben hatte] im Dezember 1972 statt, und diesen Gig hatte ich ausschließlich Motte zu verdanken. Er hatte für seine damalige Band Oxymoron einen Auftritt auf der Feier zum 50jährigen Bestehen des Schwimm- und Wasserballvereins DJK Poseidon Duisburg klargemacht, und weil ihr Baßist an diesem Abend verhindert war, traten sie mit einem Aushilfsbaßisten auf [und so habe ich Kalle Burandt, meinen seit mehr als vierzig Jahren besten Freund, kennengelernt]. Und weil das Programm mit dem Ersatzmann möglicherweise etwas zu kurz war, hatte Motte mich noch als „Vorgruppe“ engagiert.
……….Was willst du dafür haben, hatte er mich gefragt. Eine Flasche Whisky, hatte ich geantwortet – vermutlich, weil ich es cool fand, später mal erzählen zu können, daß meine erste Sologage in einer Flasche Whisky bestanden hätte.
……….Diese Gage habe ich von Motte zwar auch bekommen, doch bin ich nicht gerade begeistert gewesen, als ich feststellte, daß er das billigste Zeug (made in Germany) genommen hatte, das überhaupt nur aufzutreiben gewesen war. Ist dann auch kein besonderer Genuß gewesen, doch konnte ich Motte als Geschäftsmann ja überhaupt nichts vorwerfen, da er unserer Vereinbarung absolut korrekt nachgekommen war; nur hatte ich halt erwartet, daß er mehr wie ein Freund, der einem etwas Gutes tun wollte, denken und handeln würde.

Der früheste Motte-Soloauftritt, von dem ich definitiv weiß, hat im Februar 1974 stattgefunden. Und wenn dies tatsächlich sein allererster gewesen sein sollte, trüge auch ich an diesem Solo-Debut eine gewisse Mitschuld.
……….Am 24. Januar 1974 war ich mit Gitarre und 300 DM in der Tasche (sowie der Zusicherung auf einen Schlafplatz für die erste Nacht) nach Berlin gefahren, und am Ende des Monats hatte ich bereits sieben Auftritte hinter mir: im Steve Club, im Folk-Pub und fünfmal im Go-In, dort meistens als Letzter zwischen 3 und 5 Uhr morgens. Und von diesen außergewöhnlichen Ereignissen schrieb ich natürlich auch nach Duisburg, und als ich am 12. Februar abends ins Go-In kam [obwohl ich erst weit nach Mitternacht spielen sollte, doch den vorher auftretenden Musikern zusehen zu können war halt auch einfach nur klasse], saß Motte auf einmal da. Am nächsten Abend hat er dann [wie alle Neuen noch ohne Gage] im Folk-Pub gespielt [sein möglicherweise ja erster Solo-Gig] und ist ein paar Tage später [weil es für ihn als Klavierspieler ohne eigenes Instrument auch viel weniger Möglichkeiten als für mich gab] dann wieder nach Duisburg zurückgefahren, während ich selbst noch bis zum 2. April geblieben bin und von Februar an noch weitere 60 Auftritte machen konnte. Für einigermaßen talentierte Gitarrenspieler ist West-Berlin damals wirklich das Paradies gewesen.
……….Wenn ich von einem Auftritt rede, meine ich übrigens immer nur einen recht kurzen von nicht mehr als 20 Minuten Spielzeit (es sei denn, das Publikum hatte am Ende noch eine oder mehrere Zugaben gefordert), was vier bis fünf Lieder bedeutete. Und nach 5minütiger Pause trat bereits der nächste Act auf die Bühne, so daß es völlig normal war, mehr als ein Dutzend verschiedener Musiker an einem Abend zu erleben. [Als Gage für diese 20-Minuten-Gigs habe ich zuerst 10 DM erhalten, und ab März dann sogar 12 DM. Die richtig guten Leute bekamen aber das Doppelte.
……….Und einen Monat nach Motte ist auch Tom Altrogge noch für zehn Tage nach Berlin gekommen und hat bei fünf meiner Auftritte Scarabäus Zubiss noch mal als Duo wieder aufleben lassen. Was für eine Zeit, was für ein Abenteuer!]

Wieder zurück in Duisburg bin ich sogleich für den ersten von Motte organisierten Konzertabend „Blues & Lieder“ (in der Aula der Duisburger Gertrud-Bäumer-Schule am 10. Mai 1974) engagiert worden, bei dem außer Motte und mir auch noch Andre Pentzien & Frank Steinfort, Norbert Schewe und (als Top-Act) Fernando Vasquez zu hören gewesen sind. (Ich weiß nicht, was die anderen Musiker bekommen haben, doch hat meine Gage genau null DM betragen, weil keine genügende Anzahl von Eintritt zahlenden Zuschauern dagewesen sein soll.)

 

Motte am Flügel bei „Blues & Lieder“ (1974). Meines Wissens konnte er immer prima sehen, so daß diese Brille (mit vermutlich nur Fensterglas) wahrscheinlich eine Huldigung an eins seiner großen Idole, John Lennon, dargestellt hat. (Fotograf: unbekannt)

 

Das nächste Motte-Festival sollte bereits einen Monat später in Mülheim stattfinden, und diesmal hatte ich sogar einen richtigen Vertrag bekommen, der mir tatsächlich Geld garantierte – doch wurde es leider wieder nix damit, weil das Ganze nur einen oder zwei Tage vor Beginn von Motte noch (ohne Angabe von Gründen) wieder abgesagt wurde. Keine Ahnung, was da schiefgelaufen war.

Ich kann aber auch von einer finanziell zufriedenstellenderen Geschäftsbeziehung mit Motte berichten. 1973 gab es in meinem Zimmer (das restliche Inventar bestand aus auf dem Boden liegenden Matratzen, einem Sessel mit abgesägten Beinen, einem kleinen Schreibtisch und einem schmalen Bett), auch eine vormals meinen Großeltern gehörende kleine zweisitzige rote Couch, die Motte so gut gefiel, daß er sie mir unbedingt abkaufen wollte, doch mochte ich sie nicht hergeben. Aber Motte blieb hartnäckig, ließ nicht locker und nervte mich monatelang bei jedem Besuch auf’s neue, bis ich eines Tages erwiderte, daß die Abgabe dieses Möbels ja auch deshalb schon nicht möglich sei, weil dann eine leere Ecke in meinem Zimmer zurückbliebe. Doch ließ Motte sich auch davon nicht entmutigen und erhöhte sein altes 50-DM-Angebot spontan auf 50 DM plus 3 Matratzen. Und so akzeptierte ich den Deal schließlich, um endlich auch Ruhe vor dem ewigen Bedrängt-Werden zu haben.

Was für eine Musik hat Motte eigentlich gern gehört? Ich weiß nur, daß er ein großer Beatles-Fan gewesen ist. Und als er einmal mitbekam, daß ich die Beatles-Platten aus der ersten Hälfte der 60er Jahre kaum kannte, schenkte er mir zu Weihnachten ein paar Audiocassetten, um diese Wissenslücke auffüllen zu helfen.
……….Und einmal traf ich Motte auf der Straße in Wanheimerort und er redete ganz begeistert von einer neuen Platte, die ich mir unbedingt sofort bei ihm zu Hause anhören müsse, und so kam ich 1976 zum ersten Mal mit der Musik von Queen in Berührung: Bohemian Rhapsody.

 

D E R   O T Z   V E R L A G

Im April 1977 war schließlich [nach vier gescheiterten Für-lau-Vervielfältigungsversuchen in den Jahren 1974 und ’75] doch noch mein zweites Prosabuch „Wieder ein echter Pelikan oder Wie ein echter Pelikan oder Wie echt, Pelikan oder Echt Pelikan oder“ herausgekommen, und zwar im Duisburger OTZ Verlag – was sich einerseits toller anhört als es ist (weil es gar kein richtiger Verlag war), andererseits aber genau so toll, wie eine spontan geborene und entschlossen in die Tat umgesetzte Idee es verdient hat.
……….Im Sommer 1976 erwähnte ich einem meiner neuen Eschhausbekannten gegenüber mal, daß ich nicht nur englische Songlyrics schreiben würde, sondern auch noch einige deutschsprachige Prosatexte in der Schublade hätte, die für einen normalen Verlag jedoch völlig ungeeignet seien, während ich selber leider keine Mittel besäße, um die Sachen auf eigene Faust herauszubringen [da es sich mittlerweile auch nicht mehr um (wie bei meinem ersten Büchlein noch) nur 30, sondern inzwischen fast 100 Seiten handelte]. Dann laß uns doch einen eigenen Verlag gründen und das Buch selber drucken, schlug Rammi vor. Ich habe kein Geld, betonte ich noch einmal. Ich auch nicht, erwiderte Rammi, aber mit der Hilfe des OTZ Konzerns wird das schon irgendwie gehen. Also erkundigte er sich, wer irgendwelche Beziehungen zu einem Drucker hatte – und nach einem fehlgeschlagenen ersten Versuch im November ’76 und einer heimlich bei Thyssen gedruckten (jedoch von einem Bonzen entdeckten und sogleich konfiszierten) ersten Auflage im Februar ’77 brachte eine andere Geschäftsverbindung im März (im Tausch mit vom Konzern vorgeschossenen 140 DM) endlich einen großen Stapel einseitig bedruckter Blätter ins Haus, die in einer kurzfristig angesetzten Wochenendaktion von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des OTZ Konzern/Kollektivs in Rammis Dachbodenraumzimmer auf zwei Tapeziertischen zu 111 verschiedenen Einzelbuchseitenpäckchen sortiert und anschließend einhundertmal zusammengelegt wurden, wonach Rammi in den folgenden zwei Wochen dann damit beschäftigt war, die gesamte Buchauflage von 100 Exemplaren in Einzelleistung herzustellen, indem er jede der 111 Seiten dicken Blattsammlungen in einen Schraubstock spannte und mittels einer selbstentwickelten Klebetechnik in Buchformate brachte.

Und auch in diesem meinem zweiten Buch hatte Motte die Ehre eines Auftritts:
……….In der Zeit des erwachenden Frühlings, wenn die Lebensgeister sich zusammenschließen um Triumph über den Winter zu halten, mag man sich vorstellen, wie ein angehender Fußballschiedsrichter Tag für Tag seinen Waldlauf abhält, um bei späteren Fouls in die Hacken der den Überholvorgang schon beendet Habenden mit sicherer Lunge einen erst durch richtiges immer zur Stelle sein möglich werdenden Ahndungs-Pfiff ausstoßen zu können.
……….Der Wald ist wieder leer, denn Motte ist vorbei und aus und Ausz ist noch lange nicht dran.
……….[A.S.H. Pelikan, 1975]

……….Anmerkung 1: Motte ist Fußballfan gewesen und hat in den 70er Jahren auch einen Schiedsrichterschein gemacht, für den er sich unter anderem mit täglichen Waldläufen fit hielt.

 

31.7.1970, Bolzplatz Fasanenstraße. Motte (unten links) ist sich der Kamera sehr bewußt und hat auch gleich eine größere Pose eingenommen. (Foto: Ditz Hartung)

 

……….Anmerkung 2: Vierzig Jahre später berichtete ich auf meiner Webseite von einem kürzlich um den „Carl Korte Cup“ ausgetragenen Fußballspiel zwischen Duisburger Journalisten und Duisburger Musikern [Motte ist ja beides gewesen], bei dem auch ein „wegen eines Bandscheibenvorfalls von einem Drehstuhl im Mittelkreis aus operierender Schiedsrichter“ erwähnt wurde, bei dem es sich, wenn auch unausgesprochen, um niemand anderes als Motte handelte, der damals schon ziemlich kränklich und überhaupt nicht mehr gut zu Fuß war.
……….Dieses besondere Fußballspiel hat allerdings nur in meiner Phantasie stattgefunden, doch hätte Motte [der davon wahrscheinlich nichts mitbekommen hat, da er in seinen letzten Jahren ohne Computer und ohne Internet lebte] meinen Beitrag bestimmt gemocht, weil schräge und spinnerte Ideen zu haben ja das Hauptband gewesen ist, das uns in den 70er Jahren verbunden hat.

In meinem zweiten Buch war aber auch noch ein Gedicht abgedruckt, das besondere Erwähnung verdient, weil ich es
……….a) in Mottes Zimmer verfaßt habe, während er selbst es war, der
……….b) den Tee kredenzte und
……….c) zur poetischen Inspiration Klavier gespielt hat.

……….Noch einen Tee?
Noch einen Tee, noch ein Täßchen?
wurd ich gefragt
warum nicht
und noch ein Schüßchen Milch hinein
dann wird der Tee wohl richtig sein
hab ich gesagt.
Und während das Klavier erklingt
der Pelikan die Feder schwingt
um mit grüner Farbe aufzumalen
daß der Tee ihn doch würd laben
obwohl es ja doch schwarzer ist
den der Gaumen schmeckt, die Lippe küßt
den Tassenrand der Tasse, welche noch
vor kurzer Zeit nach Tee arg roch
derweil Inspirationen flossen
der Tee doch ward hinabgegossen.
Noch einen Tee, noch ein Täßchen?
wurd ich gefragt
warum nicht, hab ich gesagt.
……….[A.S.H. Pelikan, 1974]

Der OTZ Verlag hat übrigens keine Autorentantiemen gezahlt, weil es ihm um das Herausbringen von Büchern ging und sämtliche Einnahmen sogleich wieder in das nächste Projekt gesteckt wurden, was im selben Jahr (1977) dann auch noch das Erscheinen der folgenden Produkte möglich gemacht hat: Die Prosa-Anthologie „Duisburg City Poetry All Stars“, das „Songbook“ von A.S.H. Pelikan (mit 25 Liedertexten) und den aus 13 DIN-A3-Blättern bestehenden OTZ-Kunstkalender. Letzterer bot für jeden Monat des neuen Jahres eine Zeichnung von OTZ-nahen Personen und Duisburger Künstlern (wie Willi Kissmer z.B.) und inspirierte Motte zu folgendem hübschen Text:

Montags schreib’ ich ein Gedicht
dienstags mach ich Demo-Bänder
das vergeß ich sicher nicht
denn es steht im OTZ-Kalender

Mittwochs bring ich Geld zur Bank
donnerstags schellt dann der Pfänder
und ich stell’ mich einfach krank
das steht auch im OTZ-Kalender

Freitags kommt ’ne Disco-Schau
irgendwo im Rundfunksender
oh, das merk ich mir genau
schreib’s mir in den OTZ-Kalender

Samstags mach’ ich einen drauf
geb’ mich dann als Lustverschwender
der Termin steht felsenfest
rotmarkiert im OTZ-Kalender

Sonntags schenk ich meine Gunst
gern dem Klange einer Fender
und betrachte Bilderkunst
die steht auch im OTZ-Kalender

O wie Orgie, T wie Trick,
Z wie zwischendurch ’n Ständer
jedes Jahr bringt neues Glück
mit dem großen OTZ-Kalender

Im „Kalender“-Jahr 1978 sind neben einem Comicband von Schnuff auch noch drei weitere OTZ-Bücher erschienen, darunter auch „Heiße Haut“, die erste Liedertextsammlung von Motte [hätte davon noch jemand ein Exemplar für mich?], die ich von all seinen Songbüchern [bis 1992 hat er deren fünf mit insgesamt 151 selbstgedichteten und 8 übersetzten Musikversen veröffentlicht] am liebsten habe, weil es auch Texte aus den frühen 70er Jahren enthält, die ich schon lange kannte, da wir junge Autoren uns häufig gegenseitig unsere neuesten literarischen Ergüsse vorzutragen pflegten. Hier mein Mott’scher Lieblingstext aus jenen Tagen:

……….Kiese in der Grube

Bärenbeißer Zähnefleisch
gewunderte im Honigtau,
Silbermann, der Freudenlose,
schwimmt im Gras der frühen Jahre,
böllert aus der Luft hernieder:
Tannenzapfens Wolkenmüll.

Kiese geistert durch die Wiese,
leise,
bis ein Loch ihn fängt.
Bärenbeißer zögert,
bis der Silbermann ihn drängt,
Kiese doch herauszuknabbern
und das Loch dann zuzubaggern,
mit den breiten Bärenscheren
dürfte das nicht lange währen.

Dieser aber weigert sich
und er spricht: Ich weiger’ mich,
Kiese da herauszuknabbern
und das Loch dann zuzubaggern,
weil der Kiese letztes Jahr
schon einmal da unten war.

Ach, was hab ich da geackert,
hab‘ den Kiese rausgeknabbert,
hätt’ das Loch gern zugebaggert,
doch der Kiese hat gejammert:
Laß mir meine grüne Wiese
mit dem Loch,
das brauch ich noch!

Und so sitzt der gute Bube
Kiese jetzt in seiner Grube,
geistert nicht mehr durch die Auen,
lebt im Loch,
will Gras anbauen
und so lange wachsen hören,
bis das Loch wird nicht mehr stören,
weil das Gras es nun bedeckt,
Kiese neue Streiche heckt,
wieder durch die Wiese geistert,
leise, bis ein Loch ihn fängt.
……….[September 1972]

Als die Aktivitäten des OTZ Verlags auch andere Konzernzweige [wie die OTZ Motorradabteilung (die an Rennen auf dem Nürburg- und Hockenheimring teilnahm) und die OTZ Musikproduktion (die 1977 und ’78 ein jeweils dreitägiges Musikfestival im Eschhaus auf die Beine stellte)] aufblühen ließen, haben schließlich alle zwei Wochen dienstags im Eschhaus [wenn die Pforten für den normalen Besucherverkehr geschlossen waren] auch noch unsere Konzern-Sitzungen stattgefunden, bei denen alle OTZler und Sympathisanten willkommen waren und wo über laufende Aktivitäten und zukünftige Pläne geredet wurde, und auch Motte ist fester Bestandteil dieser das komplette Jahr 1978 hindurch stattfindenden Treffen gewesen.
……….1979 ging die glorreiche OTZ-Zeit dann leider doch schon ihrem Ende entgegen [nur noch zwei Bücher in diesem Jahr und auch kein drittes OTZ Festival mehr], weil viele Mitarbeiter nach bestandenem Abitur zum Studieren in die Welt hinauszogen oder einer beruflichen Tätigkeit nachzugehen begannen und sich deshalb um anderes zu kümmern hatten. Doch diese drei Jahre sind wirklich bemerkenswert gewesen und haben (neben noch zwei kleinen Lexika und dem schon erwähnten Comic und Kalender) insgesamt acht OTZ-Bücher hervorgebracht: fünf von Motte und Pelikan, einen Gedichtband von Kalle Burandt und zwei Anthologien mit Beiträgen von ausschließlich Duisburger Autoren.

[Zur OTZ Bibliographie]

Den OTZ-Namen haben danach vor allem Rammi und ich noch hochgehalten, indem Rammi in den 80ern seine bis heute existierende Firma Otztronics [Entwicklung, Herstellung und Serviceleistung im professionellen Audiobereich] aufbaute, ich 1982 noch ein weiteres OTZ-Buch auf den Markt brachte [„Herzlichen Glückwunsch“], die OTZ Musikproduktion in Pelikan/Rammi-Zusammenarbeit im neuen Jahrtausend sechs Pelikan-CDs fertigstellte [an der siebten („Im Bann der Subdominante“) wird aktuell gearbeitet] und Rammi sein „One Tone Zone Studio, Kerken“ [die Anfangsbuchstaben ergeben OTZ] aus der Taufe hob.
……….Und Motte hat in den 90ern noch drei Songbücher im sogenannten M-OTZ-Verlag veröffentlicht.

 

I M   M I T T E L P U N K T

Im Frühling 1978 war ich auf die Idee gekommen, als Sandwich-Man der Duisburger Bevölkerung ein frohes Pfingstfest zu wünschen. Da ich den Plan aber nur zu zweit verwirklichen konnte, bat ich Motte, der für schräge Ideen eigentlich immer zu haben war, um Mithilfe, und so sind wir am Pfingstsonntag durch die Innenstadt gelaufen: er an meiner linken Seite mit „Pfingsten“ auf der Brust und „Frohe“ auf dem Rücken, während es bei mir genau andersherum war.

 

Pfingsten mit Motte auf dem Sonnenwall (Foto: Rolf Köppen)

 

Motte ist ziemlich verrückt und exzentrisch gewesen, und er liebte es, im Mittelpunkt zu stehen oder zumindest aufzufallen – und übersehen worden sind wir beide von den Passanten bei unserem Pfingstspaziergang bestimmt nicht. Aber aufzufallen ist nicht nur für Motte wichtig gewesen, sondern auch für mich; denn ich bin (auch wenn man es nicht vermuten würde) als junger Mann ein ziemlich ängstlicher und eher selbstbewußtloser Zeitgenosse gewesen, der seine Unsicherheiten vor allem hinter seinem Künstler-Image zu verbergen versuchte – und vielleicht sind Mottes Beweggründe ja ähnlich gelagert gewesen und er hat sein Das-Licht-der-Öffentlichkeit-Suchen auch deshalb mit solcher Leidenschaft betrieben, um so seine (ihn sein Leben lang begleitende) Einsamkeit zu übertünchen, die auch in nachfolgendem Text recht deutlich erkennbar wird:

……….Lied an die (T)Räume
Meine Kammer ist leer, doch ich bin nicht allein, neben mir steh’n ein Tisch und zwei Schränke, auf dem Boden liegt ärmlich das Bein eines Stuhles herum und bedrohlich wanken die Wände.
……….Fenster und Türen sperrangelweit offen, frischer Farbgeruch schleicht sich hinein, treibt mich hinaus, ohne daß ich’s will. Natürlich ist im Garten mal wieder was los. Keiner da, und die Tiere steh’n kopf. Auf der Suche nach Leben find ich ’nen Vogel unter’m Bett, da hat ihn die Katze gerupft.
……….Am Abend allein vor dem Mikrophon, auch im leeren Saal leben Stühle, da sitzen Leute mit Ohren herum und ich treibe mit ihnen meine Spiele, doch sie verstehen keinen einzigen Ton. Und wenn sie dann gehen, befreit und zufrieden und der Saal ist leer, doch die Stühle zerschlagen, dann sammle ich einige Beine auf, um sie nach Hause zu tragen.
……….[ca. 1978]

Was Motte zeitlebens gefehlt hat war ein Freund. Ich meine jetzt keinen Sexualpartner, sondern einen wirklich guten besten Freund, dem man tiefe persönliche Gedanken anvertrauen konnte. Ich selbst bin auf diesem Gebiet allerdings auch kein Experte gewesen und habe jahrzehntelang mit einigen „unaussprechlichen“ und schwer lastenden dunklen Geheimnissen zugebracht, die ich immer zu verdrängen versuchte, ohne sie dadurch aber wirklich loswerden zu können. Erst im Alter von über 60 habe ich meinem besten Freund und meiner besten Freundin schließlich davon erzählen können, was ich – auch mit solch zeitlicher Verspätung noch – als große Erleichterung empfunden habe. Aber so weit ist Motte, wie ich denke, nie gekommen.

Motte ist ohne Vater aufgewachsen, während ich zwar einen Vater hatte, diesen aber nie wirklich zu lieben vermochte und auch von seiner Seite her keine richtige Liebe gespürt habe. Von unseren Müttern sind Motte und ich dafür umso mehr verhätschelt worden, was mir allerdings (wie ich als junger Erwachsener noch leidvoll erfahren sollte) überhaupt nicht gut getan hat und was auch für Motte keine optimale Vorbereitung für eine Entwicklung zu einem fest im Leben stehenden glücklichen Menschen gewesen sein dürfte.
……….Kunst ist für uns beide ein vermeintlicher Ausweg aus der unsere Seelen vergiftenden Isolation gewesen, doch hat Motte leider dazu geneigt, seine musikalischen Talente etwas zu überschätzen, was ihn im Laufe der Zeit immer mehr in die Ecke eines unverstandenen Einzelkämpfers manövriert hat. Doch zu Ende der 70er Jahre hat der Traum vom großen Erfolg bei ihm noch absoluten Bestand gehabt.

Neben der in Mottes und meinem Künstlerleben fast gleichlaufenden Entwicklung des Ein-Instrument-Erlernens, Eigene-Lieder-Komponierens und Prosatexte-und-Songbücher-Veröffentlichens ging die Parallele auch bei unserer jeweiligen ersten Musikgruppe mit eigenem Liedmaterial weiter: „Mottes Meute“ (1978/79 und – in neuer Besetzung – 1981) und Pelikans „Al and The Hollywood Rats“ (1981 bis ’83). Wobei Motte deutlich früher schon (1978) auf sein Hauptinstrument (Keyboards) verzichtet hat, um nur noch als singender Frontmann in Erscheinung zu treten, während ich mich erst in meiner 1985 gestarteten Nachfolgeband „Al und die Hollywood Rats“ [mit komplett neuen Mitstreitern und erstmalig auch deutschen Texten] ohne mein Instrument (Gitarre) auf der Bühne zeigte und ebenfalls nur als Sänger agierte, um mich darin [– Motte und ich sind ja beide keine geborenen Vokalisten gewesen und haben vielleicht nur deshalb zu singen begonnen, weil die selbstkomponierten Lieder es verlangten oder nahelegten –] zu üben und zu verbessern.

Motte hat sich für ein Publicity-Foto seiner Band mal die Haare blond gefärbt und die Augenbrauen abrasiert (was wirklich sehr seltsam aussah), und als meine „Duisburg City Rock ’n’ Roll All Stars“-Coverband im Sommer 1978 zwei Wochen lang in der Gegend von Marburg tourte, verteilten wir an die Veranstalter auch das Mottes-Meute-Infoblatt, und angesichts des oben erwähnten Fotos meinte einer: Die Jungs sind bestimmt teuer. Das Foto hatte seine geplante Wirkung also nicht verfehlt.
……….Den größten Auftritt in Duisburg hat Mottes Meute wahrscheinlich bei dem Open-air-Festival im Kantpark am 10. Juni ’78 gehabt (bei dem neben weiteren Bands auch meine „All Stars“ gespielt haben). Und von diesem Motte-Event gibt es sogar einen dreieinhalbminütigen Filmmitschnitt.
……….Titel: Motte im Park. Kamera: Helmut Loeven. Originalformat: Super 8 (seit 2009 auch als DVD mit einigen anderen Loeven-Kurzfilmen zusammen in Helmuts „Buchhandlung Weltbühne“ zu bekommen). Farbe: ja. Ton: nein (denn Super-8-Filme besaßen nun mal keine Tonspur).
……….Und Motte bewegt sich auf der Bühne mit dem Mikrophon in der Hand auch sehr filmtauglich, während seine Bandmitglieder ihn teils erstaunt, teils amüsiert beobachten, denn so überdreht (um auch ein paar professionell wirkende Posen für den von ihm bestellten Fotografen zu kreieren) hatten sie ihn live wahrscheinlich noch nie agieren sehen.
……….Meine liebsten Filmmomente sind aber die, in der die Kamera mal von der Bühne wegschwenkt und fünf Sekunden lang der gerade dort entlangschlendernden Frauke folgt.

Frauke hat damals im Eschhaus hinter der Theke gearbeitet [eine bessere und coolere Thekenkraft hat der Laden nie gesehen!] und ist nur zwei Wochen später meine Geliebte geworden. Und weitere zwei Wochen später bin ich mit den „All Stars“ auf die schon erwähnte kleine Marburg-Tournee gegangen. Und weil die Liebe zu dem Zeitpunkt noch ganz neu und die Sehnsucht nacheinander noch unendlich groß war, ist diese zweiwöchige Trennung nur schwer zu ertragen gewesen, und so habe ich ihr alle zwei Tage oder so einen Brief geschrieben. Das Problem war nur, wohin ich die Post senden sollte, da von unserem Verhältnis niemand wissen durfte, weil Frauke verheiratet war und ihr Mann im Eschhaus – obwohl selten anwesend – auch kein Unbekannter gewesen ist. Und da half mir Motte aus der Klemme, der sich bereit erklärte, für mich den Liebesbriefträger zu spielen, indem ich die Briefe an ihn adressierte und er sie abends im Eschhaus heimlich an Frauke weitergab. Ich habe ihm dabei vollkommen vertraut, und er hat auch nie ein Sterbenswörtchen über diese Liebesbeziehung, die ja absolut verboten war, ausgeplaudert. [Das hat später dann eine gute Bekannte von mir, die mein Verhalten offenbar nicht tolerieren mochte, getan und Nachricht über das Pelikan-Frauke-Verhältnis dem Ehemann zugetragen.]

{Erst nach der Erstveröffentlichung dieses Beitrags eingegangene Information, die mir Birgit Quentmeier von den „Flowerpornoes“ hat zukommen lassen: „Ich habe 1978/79 im Eschhaus einen Klavierkurs bei Motte gemacht. Ich war damals noch in der Musikschule, aber da wurde nur nach Noten gespielt und das ging mir irgendwann auf den Geist. Motte hat mir beigebracht, Songs mit Akkorden zu begleiten und auch etwas zu improvisieren. Hat also sozusagen bei der Grundsteinlegung meiner ‚Rockmusikerinnenlaufbahn‘ mitgewirkt.“}

 

Pelikan, Motte und Helle Wollenschläger am 3. Mai 1978 in Wuppertal, sich die Zeit bis zu meinem Auftritt vertreibend. (Foto: Rammi)

 

D E R   W O R T M E N S C H

Motte und ich sind außer Tontransporteuren vor allem Sprachreisende gewesen, und ich habe viele seiner frühen Wortschöpfungen sehr gemocht. Seine Pseudonyme Manuela Männlich und Gloria Grantig-Grauh (die angeblich ein Automobil der Marke „OTZ Stöhnwind, Modell Machmir 1“ chauffiert hat) zum Beispiel, oder seine Erfindung des Wortes „pelikanesisch“ (1981), das ich sogleich adoptiert und später noch zu dem Begriff „Pelikanesien“ (für meine Wohnung) erweitert habe. Und auch Texte wie dieser hatten es mir angetan:

……….Hoffnung

Beim Frühstück Samstagmorgen war’s,
ich hatte grad’, noch unrasiert,
ein Ei gepellt, nahm Salz nach Maß,
als ungestüm die Klinge schellt’.

In Eile ließ ich das Frühstück steh’n,
um nach dem frühen Gast zu seh’n.

Sie war eine Dame, trug Jeans und sah aus
und machte sich einen Spaß daraus,
mich durch Fragen zu verwirr’n,
wie dieser: Haben Sie ein Gehirn?

Ich hatte noch eins auf dem Fernseher ruh’n,
in Säure war es konserviert,
seit Jahren hatte es nichts mehr zu tun,
und die Windungen waren mit Staub garniert.

Auf Verlangen habe ich’s angemacht,
und siehe da: es hat gedacht.

Doch die Dame war völlig außer sich,
denn die Weiblichkeit, die duldet es nicht,
für den Notfall Gehirne instand zu halten,
doch weil ich sie liebte, habe ich ihr
mein Gehirn überreicht mit Plaisir,
ohne es wieder auszuschalten.

Denn ich schwärme für Damen mit Esprit,
für ihre Wärme, für ihre Knie.

Diese nette Gehirneinsammlerin
mit Damenbart und Doppelkinn
gewährte mir diskret ’ne Offenbarung –
aber wie’s so oft im Leben geht,
auch wenn man sich sehr gut versteht,
ist sie heut’ für mich nur noch Erfahrung.

Seitdem sitz’ ich täglich in Cafés
bei schwarzem Tee, Gebäck und les’
Kontaktanzeigen in den bunten Blättern –
was wär der ganze Liebesmarkt
von Pubertät bis Herzinfarkt,
wenn man die große Hoffnung
nicht mehr hätte?

Mit dieser Erkenntnis bin ich froh
zum Trödelmarkt gezogen,
am Stand habe ich hoffnungsvoll
die Hoffnung angeboten:
für den Genossen Wandelmann
die Hoffnung auf Veränderung,
und für den Pfarrer nebenan
die Hoffnung auf das Christentum,
für meine gute Oma Frisch
die Hoffnung auf den neuen Plüsch,
und für den Dackel Dagobert
die Hoffnung, daß er sich vermehrt,
und für den Bundeskanzler Schmidt
die Hoffnung auf den Staatsprofit,
und für den Unternehmer Kraus
die Hoffnung auf Franz-Josef Strauß.

Die Hoffnung für den Einzelnen,
Hoffnungen für die Masse,
im Sortiment führ’ ich die große
Hoffnung ohne Klasse.
……….[April 1974]

Motte hat in einer Welt aus mitunter recht skurrilen Gedanken gelebt, und wenn du ihm irgendwas erzähltest, schlug er häufig einen Assoziationsbogen zu etwas ganz anderem, auf das du nie im Leben gekommen wärst. So brachte er auch jede Unterhaltung mit Leichtigkeit auf eine Mott’sche Ebene, was allerdings auch ziemlich ermüdend sein konnte, wenn er ständig die Gesprächsführung zu beherrschen versuchte. Er hat definitiv lieber sich als andere reden gehört.
……….Und weil Schreiben ja irgendwie auch eine Art von Reden ist, wundert es mich nicht, daß Motte sich – weil es mit der Karriere als Musiker nicht so klappen wollte – schließlich dem Journalismus zugewandt hat, dem er von 1979 bis mindestens 1985 (als freier Mitarbeiter der NRZ Duisburg) und von mindestens 2002 bis mindestens 2012 (als freier Mitarbeiter der NRZ/WAZ-Lokalredaktion Rheinhausen) treu geblieben ist.
……….Motte hat meines Wissens nie eine Berufsausbildung „genossen“ [eine weitere Parallele zwischen ihm und mir] {erst im Nachhinein erhaltene Information: Motte soll Verlagskaufmann gelernt haben}, und ich weiß nur sehr wenig über seine „Geldbeschaffungsmaßnahmen“. In den frühen 70ern ist er mal einige Monate Briefzusteller in Düsseldorf gewesen, und in den späten 80ern und/oder frühen 90ern hat er ein paar Jahre in einer Düsseldorfer Werbeagentur gearbeitet. Sonst weiß ich nur von seiner Tätigkeit bei der Tageszeitung, für die er vor allem Artikel über lokale Sport- und Musikereignisse geschrieben hat.
……….Von 1979 bis (mindestens) 1981 betreute er dort auch die Rubrik „Was hört man aus der Szene?“, in der beispielsweise so „wichtige“ Nachrichten wie diese gebracht wurden:
……….„Lizard Music haben sämtliche Konzerte abgesagt, weil ihr Mischpult-Techniker nach einem Verkehrsunfall im Krankenhaus liegt“,
……….„ein Agent einer Plattenfirma soll sich zu Kontaktgesprächen bei Alma Ata angesagt haben“,
……….„Baßist und Keyboarder von Shaa Khan sind gerade noch rechtzeitig für einen Auftritt ihrer Band wieder fit geworden, nachdem sie Beschwerden mit Kiefer und Nieren hatten“
……….und so weiter. Es mußte sich also wirklich nicht um Weltbewegendes handeln um wert zu sein, in diese Kolumne aufgenommen zu werden. Hier noch ein Beispiel aus dem Jahr 1980:
……….A.S.H. Pelikan, Gitarren-Desperado der Duisburger Rockszene, war bisher immer froh, auf der Straße nicht erkannt zu werden. So verwechselte ihn manch unkundiger Rocklaie höchstens mal mit Peter Bursch. Das muß jetzt anders werden. Ein eifriger Pelikan-Fan gründete deshalb den „A.S.H. Pelikan-Fanclub“, der Bücher-, Platten- und Autogrammwünschen nachkommt sowie über Lesungs- und Konzerttermine des Musikers und Schriftstellers informiert. Anschrift: …
……….… und dann folgten Name, Adresse und Telefonnummer meines damaligen Schwagers Wowa, der es durchaus erst damit meinte. [Bis heute hat sich allerdings kein einziger Fan aufgrund dieses Artikels bei ihm gemeldet.]

Motte ist auch noch an zwei weiteren lokalen Zeitungsserien beteiligt gewesen. 1981 in Eigenverantwortung an „DU-Bands der 70er“, und 1985 mit Kalle Burandt zusammen an „Yeah! Yeah! Yeah! – Als der Beat nach Duisburg kam…“.
……….Motte hat seinen Job manchmal aber auch deutlich zu lasch gehandhabt. Einmal rief er mich nach einem Konzert, das ich mir im Eschhaus angesehen hatte, an, um zu fragen, wie es denn gewesen sei, und zwei Tage später konnte ich meine Worte als seine Konzertkritik beim Frühstück lesen.
……….Oder im neuen Jahrtausend: Als Motte für die NRZ/WAZ Rheinhausen arbeitete, fiel es auch in seinen Bereich, zu Beginn eines neuen Semesters auf vom Arbeitsstellenleiter der Volkshochschule ausgewählte Kurse im Duisburger Westen hinzuweisen, wobei er mehrfach so schlampig mit den Kurs- und Telefonnummern umgegangen ist, daß die falsch wiedergegebenen Zahlen uns [ich war damals (und bin es noch heute) Kursleiter in jener Region] eher geschadet als genützt haben.
……….Allerdings hat er auch viele sehr gute Artikel verfaßt, die gekonnt formuliert waren und das Wesentliche präzise auf den Punkt brachten – denn für Worte hat er wirklich ein Händchen gehabt.

 

D A N A C H

Meine kumpelhafte Zeit mit Motte sind die 70er Jahre gewesen. Danach nahm der Kontakt doch deutlich ab.
……….Am 2. April 1981 haben wir beide zum letzten Mal (nachdem ich bei drei früheren Gelegenheiten bei einem seiner Songs mal kurz mitgewirkt hatte) gemeinsam auf einer Bühne gestanden. Motte hatte die Idee, die drei Duisburger Liedermacher Motte, Pelikan und Andreas Kliewer zu einem Konzert zu vereinen, bei dem (neben eigenen Solostücken) auch jeder mal mit jedem zusammenspielen sollte. Verschwiegen hatte er mir allerdings, daß er diese lose und einmalige Musiker-Zusammenkunft der Presse gegenüber doch etwas anders verkauft hatte, nämlich als „Das Aprilsch(m)erzkonzert der Duisburger Wetterschlußverkaufkapelle“, was ein richtig durchdachtes Konzept vorgaukelte, das es aber überhaupt nicht gab. Der Auftritt war dann insgesamt auch eher peinlich.

 

März 1981 in Mottes Zimmer: Andreas Kliewer, Motte, Pelikan. (Fotograf: unbekannt)

 

Ein oder zwei Jahre später hat Motte dasselbe Konzept noch eine Niveaustufe höher getragen und ein Konzertpaket mit den [im Gegensatz zu Kliewer und mir] auch außerhalb Duisburgs bekannteren Musikern Frank Baier und „Frank der Schwartenhals“ zusammen gebildet.
……….[Baier betont aber, daß der Umgang mit Motte eine negative Erfahrung gewesen sei und er sich am Ende völlig von ihm distanziert habe.]

Von weiteren Motte-Konzerten in jenem Jahrzehnt ist mir nichts bekannt, so daß ich vermute, daß er seine musikalischen Aktivitäten irgendwann eingestellt oder nur noch im stillen Kämmerlein betrieben hat.

Die 80er Jahre sind auch die Zeit gewesen, in der er immer mehr von gesundheitlichen Problemen heimgesucht wurde und in der sein Körper (vielleicht auch aufgrund der vielen Pillen, die er sich damals einpfiff) irgendwie aufzuquellen begann.
……….Eines Tages überraschte er mich und meine Gäste, indem er uneingeladen auf meiner Geburtstagsparty erschien, und weil ich ihn aus alter Freundschaft nicht enttäuschen wollte, ließ ich ihn auch ein. Er blieb etwa anderthalb Stunden, trank die ganze Zeit über keinen einzigen Tropfen (während ansonsten fröhlich dem einen oder anderen Bier zugesprochen wurde) und war dennoch doppelt so gut drauf wie alle anderen und redete, redete, redete, redete und brach dann völlig überstürzt von einer Sekunde auf die andere wieder auf. Wir haben uns alle unser Teil dabei gedacht.

Im nächsten Jahrzehnt sollte es dann weiter bergab gehen. 1991 und ’92 hat Motte noch drei Songbücher mit 94 unveröffentlichten Liedertexten im Eigenverlag herausgebracht, von denen eines aber (wieder einmal) ziemlich zweifelhafte Coverkunst präsentierte: Ein Foto von zwei nackten, etwa 10jährigen Knaben, die ihre (im Bild retuschierten) Genitalien aneinanderdrücken, während auf der Rückseite eine Collage von zwei nackten Männerärschen mit einem ins Bild ragenden Kinderpenis zu bewundern ist. – Hat er sich als Werbefachmann eigentlich keine Gedanken über die eher verkaufshemmende Wirkung solch eines Covers gemacht? Oder hat die Auflage sowieso nur realitiv wenig Exemplare betragen? Oder hat er vielleicht schon nicht mehr wirklich gewußt, was er da eigentlich tat?

Etwa um diese Zeit herum muß auch seine Mutter gestorben sein, was für Motte einen gewaltigen Verlust bedeutet hat. Er blieb danach noch zwei oder drei Jahre in dem Haus auf der Gärtnerstraße wohnen (das er zuerst noch zu renovieren begonnen hatte, bis es zu einer Art wohnwüstiger Großbaustelle verkommen war), bevor er schließlich den Rat eines Bekannten annahm und die Bude einfach verkaufte.
……….Anschließend zog er in eine Mietwohnung nach Hochfeld, für die er sich unter anderem einen (wie er mir voller Stolz berichtete) 2000 DM teuren Fotokopierapparat anschaffte, und weil er ja jetzt ein gutbetuchter Mann war, fuhr er bei Bahnreisen fortan nur noch 1. Klasse.

Im November 1995 hatte ich einen recht gut besuchten Auftritt im Steinbruch, bei dem auch Motte anwesend war, der mir hinterher mitteilte, daß er sowas auch könne und die Zeit nun – nach einigen bühnenlosen Jahren – reif sei für sein Comeback. Dieses fand dann im folgenden Jahr (ebenfalls im Steinbruch) vor nur knapp 20 Zuschauern statt und war mit das Deprimierendste, was ich ich je zu hören und zu sehen bekommen habe [er trug neben ausgesucht ärmlicher Kleidung (bis auf die viel zu schicken Schuhe und Socken) auch eine Glatzenperücke]. Doch ließ Motte sich von der mageren Publikumsresonanz nur kurz aus der Fassung bringen und sprach nach diesem „Comeback“ nur noch von seinem kommenden großen Durchbruch – weil er felsenfest davon überzeugt war, richtig gut zu sein und nur alle anderen (mich eingeschlossen) einfach keine Ahnung hätten. Originalton Motte: „Was der Helge kann, kann ich auch.“
……….Ein Jahr später (1997) brachte er dann innerhalb weniger Monate zwei CDs mit insgesamt 29 eigenen Liedern heraus, auf denen er jeden Ton (mehrere Keyboardstimmen, einen Synthiebaß und eine Drumcomputerspur) mit einer Music Workstation [ein mit einem Computer gekoppeltes Keyboard] eingespielt, aufgenommen und abgemischt hatte – lediglich der Gesang war zum Schluß noch in einem professionellen Tonstudio hinzugefügt worden -, doch litt das Ganze im Zusammenklang der einzelnen Instrumente an solch unüberhörbaren Timingschwankungen, daß das Ergebnis für meine Ohren nur als ungenügend bezeichnet werden konnte.

 

Mein letztes Motte-Foto (im August 1988 bei meinem „Showtime in Neumühl“-Bühnenjubiläumskonzert): Andreas Hub, Kalle Burandt und Motte. (Foto: Rolf Köppen)

 

Im neuen Jahrtausend hat Motte seinen Wohnsitz dann noch nach Duisburg-Rheinhausen verlegt und ist länger als 10 Jahre in der dortigen NRZ/WAZ-Redaktion als freier Mitarbeiter tätig gewesen. Er war wieder etwas dünner geworden, sah aber deutlich älter aus als er war, und nachdem er 2008 einen wirklich objektiven Artikel über das Erscheinen meiner ersten CD verfaßt hatte [– in einer weiteren Parallele hatte auch ich das mir nach dem Tod meiner Eltern zugefallene Erbe dazu benutzt, um endlich eine eigene Schallplatte zu fabrizieren –], vermochten wir auch wieder ein wenig miteinander zu reden; jedoch nur, wenn wir das Thema Musik dabei völlig außen vorließen.

In den 2010er Jahren habe ich Motte noch drei- oder viermal gesehen, jeweils in Helmut Loevens „Buchhandlung Weltbühne“. Er hatte auf seine alten Tage wieder mit dem Schreiben von Prosatexten begonnen [eine weitere Parallele zu mir], und zwischen Juni 2011 und Januar 2018 sind noch achtzehn seiner „Geschichten aus dem Leben eines Lokalreporters“ in Loevens Zeitschrift „Der Metzger“ veröffentlicht worden.
……….Motte war inzwischen – vielleicht auch aufgrund eines ca. 2013 erlittenen Oberschenkelhalsbruchs – alles andere als gut zu Fuß, doch habe ich ihn nicht ein einziges Mal darüber klagen hören. Er machte sich im Gegenteil sogar lustig über seinen ihn immer mehr im Stich lassenden Körper, war stets gut gelaunt und nahm offenbar alles sehr gelassen und mit viel Humor.

Das Sehnen ist vorüber,
die Illusion verging,

die Todeszelle ist nun mein Quartier.
Erlöst bin ich vom Fieber,
das den Verstand umfing,
die Würfel sind gefallen,
ich verlier’.
……….[Aus „Abschied“, ca. 1978]

Motte fuhr in diesen letzten Jahren recht häufig von Rheinhausen mit dem Bus zum eben mal ’n Kaffee trinken nach Duisburg, oder mit dem Bus zu Helmuts Buchladen nach Neudorf, oder mit dem Bus zur Stadtbibliothek nach Buchholz. So ist er wenigstens noch mal rausgekommen aus seiner Bude und hat seine Einsamkeit etwas durchlüften können – ähnlich wie in meiner von irgendwem vernommenen Lieblingsanekdote: daß er sich über einen längeren Zeitraum hinweg jeden zweiten Tag bei einem Frisör in seiner Nachbarschaft hat rasieren lassen sollen. Wahrscheinlich, weil es einfach verrückt war, und um hin und wieder auch noch etwas Kontakt zum „normalen“ Leben zu haben und sich in jenen Momenten ein bißchen weniger allein zu fühlen.

Die meisten Leute, die mit Motte zu tun gehabt haben, sind von seiner speziellen Art eher abgestoßen als angezogen worden, doch möchte ich selbst ihn trotz seiner unrühmlichen Seiten am liebsten als den so schön schräg schillernden Vogel in Erinnerung behalten, den er in den 70er Jahren so gekonnt verkörpert hat und der (in den Worten eines alten Weggefährten) auch in der nachfolgenden Momentaufnahme in vollem Glanze erstrahlt:
……….„Unvergessen auch sein spontaner Wildschwein-grün-Urschrei auf dem Duisburger Hauptbahnhof, langsam ansteigend bis zu einem alles vernichtenden Freudengeheul, einfach so!“

Duisburg, Mai bis Juni 2018

[Zur Motte Biblio- und Diskographie]


Gilla

 

mit Gilla Fischer
[27. 12. 1956 bis 3. 8. 2017]
in der guten alten Zeit

(Foto: Schnuff)


30 Jahre Eschhaus zu!

1. Mai 2017

Im Winter 1993/94 bekam ich das schmeichelhafte Angebot, an einem Buch zum Thema Duisburg mitzuwirken. Verschiedene Autoren waren gebeten worden, über den Stadtteil zu schreiben, der ihnen zur Heimat geworden war, und man lud mich ein, einen Text über Wanheimerort beizusteuern. Doch obwohl ich diesen Stadtteil, in dem ich seit 40 Jahren lebte, gut kannte und auch wirklich mochte, wollte sich einfach kein rechtes mich zum Schreiben drängendes Heimatgefühl einstellen, so daß ich kurz davor stand, meine bereits erfolgte Zusage wieder rückgängig zu machen, als mir noch ein ganz anderer Ort in den Sinn kam, der für mich mehr als alles andere auf der Welt wirklich Heimat bedeutet hatte. Und so schrieb ich am Ende nicht über Wanheimerort, sondern übers Eschhaus.

Und weil es heute auf den Tag genau 30 Jahre her ist, daß das Eschhaus geschlossen wurde, habe ich meinen Beitrag aus der im Oktober 1994 im Mercator-Verlag erschienenen Anthologie „Duisburg auf den zweiten Blick“ jetzt noch einmal hervorgekramt. Diese Erinnerungen stellen meinen ersten Versuch dar, etwas Essayartiges zu Papier zu bringen, und auch wenn ich das Ganze heutzutage etwas anders angehen würde, sind meine Gefühle und Meinungen doch immer noch dieselben wie damals. Ich habe nachfolgenden, 23 Jahre alten Text aber noch mal durchgesehen und an manchen Stellen etwas verändert, sowie noch um ein paar [kursiv in eckige Klammern gesetzte] zusätzliche Informationen erweitert.

 

Heimatplanet

Mein Universum heißt Erde, meine Galaxis Deutschland, und mein Sonnensystem Duisburg. Es ist ein recht großes System mit vielen verschiedenen Welten, und eine davon wurde [als ich 20 Jahre alt war] für die Dauer eines ganzen Jahrzehnts zu meinem Heimatplaneten. Dieser besondere Planet lag auf der Sternenkarte Rhein/Ruhr in Zentralebene 2 des Planquadrats 85/4, trug die astronomische Bezeichnung 32-34 und war durch den Einflugkorridor Niederstraße bequem zu erreichen. Er hatte eine Größe von etwa 5000 m³, eine Schwerebeschleunigung von 9,81 m/s², drehte sich in 23,9345 Stunden einmal um sich selbst und besaß eine äußerst atembare Atmosphäre. Seine Landmasse bestand aus einem runden Dutzend Kontinente, welche Café, Sport- und Tagungsraum, Grüner Salon, Blauer Salon, Teestube, Büro, Veranstaltungsraum, Werkraum, Buchladen, Abstellraum 1, Abstellraum 2 und so weiter genannt worden waren. Die Bewohner dieser Welt waren ein humanoides, friedfertiges und recht bunt gemischtes junges Volk, das sich – laut Aussage eines intergalaktischen Völkerkundlers – aus Hippies, Ökos, Alternativen, Anti-Atomlern, Punkern, Schwulen, Lesben, Anarchos, Makrobioten, Afro- und Xenophilen, Hanffreunden, Autonomen, Antifaschisten, Frauenbewegten, Solarbastlern, Folkies, Rockfans, Musikern, Kabarettisten, Tänzern, freien Theaterschaffenden, Teetrinkern, Naturköstlern, Existenzgründern, Cineasten, Zivis, Totalverweigerern, Sozialhilfeempfängern, Internationalisten, Motorradliebhabern, Multimediaartisten und vielen anderen mehr zusammensetzte, die alle relativ normal bis ganz schön seltsam redeten, allerdings nie so hochtrabend wie der Autor von einem „Planeten“ schwafelten, sondern einfach nur „Eschhaus“ dazu sagten. Und dieses Eschhaus war im Grunde genommen nichts anderes als ein Jugendzentrum, jedoch ein vollkommen selbstverwaltetes und damit doch schon etwas ziemlich Besonderes.

Allein das Programmangebot war schon nicht von städtischen Eltern: Man konnte Konzerte besuchen, Theateraufführungen, den Film am Mittwoch oder samstags auch ganze Filmnächte, Malerei- und Fotoausstellungen, Dia- und Videovorführungen, zu Diskussionen gehen, zum Tanzen ins Rockcafé, bei Musiksessions mitmachen, Billard und Tischtennis spielen, Musik hören, was essen und trinken, Zeitungen lesen, im Buchladen stöbern, sonntags zum Frühstücken kommen, kostenlose Beratung bei medizinischen, psychologischen und juristischen Fragen erhalten, an einem der über 50 Kurse des Weiterbildungsprogramms teilnehmen oder einfach nur im Café sitzen um zu gucken und Leute zu treffen.

Als ich im August 1974, wenige Tage nach Inbetriebnahme – die offizielle Eröffnung sollte allerdings erst Ende Oktober stattfinden – zum ersten Mal einen Fuß ins Eschhaus setzte (ein unbedeutender Schritt für die Menschheit, jedoch ein lebensbeeinflussender für mich), steckte die Erschließung desselben noch sichtlich in den Kinderschuhen. Die Getränke- und Küchentheke zum Beispiel war wenig mehr als eine ordentlich zusammengezimmerte Bretterbude (die monumentale Steinversion sollte erst nach dem Anfang 1976 erfolgten Brand im Haus das Licht dieses Planeten erblicken), und wenn man die Treppe vom Café zur ersten Etage hinaufstieg, gelangte man (wo später ein Flur zu drei neuerschaffenen Zimmerkontinenten führen würde) in einen einzigen großen kargen Raum, dem ein einsamer Schreibtisch nebst Aktenschrank nur wenig glaubhafte Büroraumstimmung zu verleihen vermochte. Es war alles noch sehr primitiv und ein bißchen durcheinander, eben nach eigenen Kräften hausgemacht, und genau das gefiel mir ausnehmend gut. Die Atmosphäre war einfach nicht so abgestanden wie in ähnlichen Einrichtungen, und schiefe Blicke wegen mangelnden Konsumverhaltens brauchte man hier auch nicht zu befürchten.

Über die Entstehungsgeschichte und die Hürden, welche die Streiter für ein unabhängiges Jugendzentrum zu überwinden hatten, um den Laden überhaupt erstmal auf die Beine zu stellen und ihn allen Angriffen und vielfältigen Problemen zum Trotz auch noch bis ins dreizehnte Jahr hinein auf denselben zu halten, vermag ich – da mich dieses Thema damals [als ziemlich einfältiger Hippie und sehr unpolitischer Mensch] kaum interessiert hatte – allerdings kaum etwas zu sagen. Ich hatte 1972 oder so zwar mal an einer großen Wir-wollen-ein-eigenes-Jugendzentrum-haben-Hausbesetzung auf der Kolonie- oder Wildstraße teilgenommen, aber wohl weniger aus Überzeugung zur Sache, sondern vielmehr, weil an dem Tag da eben was los war. Politisches Verantwortungsbewußtsein gehörte damals nicht zu meinen Tugenden, und die späteren eschhausinternen Debatten haben mich auch eher gelangweilt als interessiert, doch fühlte ich mich als häufiger Gast des Hauses zumindest dazu verpflichtet, bei jeder öffentlichen Vollversammlung anwesend zu sein. Einerseits, um meine Solidarität zu dieser Gemeinschaft zu bekunden, und andererseits um mitzuhelfen, die „richtigen“ Leute für den siebenköpfigen Beirat (der Quasi-Regierung des Hauses) zu wählen.

[Hier noch meine Lieblingserinnerung an eine dieser Versammlungen: Ein in der damaligen Szene nicht unbekannter Duisburger Künstler, der aber nur äußerst selten im Eschhaus als Besucher zu sehen gewesen war, tauchte überraschend bei einer Vollversammlung auf, um für den Beirat zu kandidieren. In seiner Vorstellungsrede erwähnte er großspurig auch einige seiner Studienreisen, die ihn in den letzten Jahren sogar bis nach Indien geführt hätten und berichtete weiter, daß er demnächst auch einige Monate in Afrika zur künstlerischen Fortbildung verbringen würde. Nachdem er seinen Vortrag schließlich beendet und sich wieder gesetzt hatte, stand jemand anderes auf und stellte ihm folgende Frage: „Wie gedenkst du, die Interessen des Eschhauses in Afrika zu vertreten?“ Wodurch – als das allseitige Gelächter beendet war – die Wahlaussichten des Kandidaten faktisch auf null gesunken waren.]

Neben der Pflichtübung meiner Teilnahme an den Vollversammlungen blieben meine Tätigkeiten im Haus zu Anfang auf reines Besucherverhalten beschränkt (hinkommen, rumhängen, quatschen, abhauen), doch begannen die weitaus größeren Möglichkeiten, sich am eschhäuslichen Leben zu beteiligen, mich mit der Zeit dann auch allmählich zu erreichen und etwas einzuspannen. Das monatlich erscheinende Eschhausheft zum Beispiel brachte mich dazu, hin und wieder auch einen kleinen Artikel dafür zu verfassen, und die Bühnen in Café und Veranstaltungsraum luden zur Vorstellung von musikalischen Werken ja geradezu ein. Die Gründung einer regelmäßig im Grünen (oder Blauen?) Salon tagenden Musikerinitiative brachte mir schließlich die Bekanntschaft einer Menge neuer Leute (von denen der eine oder andere in späteren gemeinsamen Bands eine wichtige Rolle spielen sollte), und als literarisches Gegenstück zur „Kooperative Montan Musik“ fing dann auch noch das OTZ Konzern/Kollektiv im Hause an zu keimen, zu sprießen und erste Blüten in Form von kleinen Büchlein (auch ein paar von Pelikan) zu treiben, die im Eschhausbuchladen sogar käuflich zu erwerben waren. Als die Aktivitäten des Konzerns ob zusätzlicher Abteilungen sowie einer deutlich gewachsenen Mitarbeiterzahl immer unübersichtlicher zu werden begannen, durften wir sogar den Dienstag (an dem offiziell geschlossen war) nutzen, um in Ruhe im Eschhaus-Café unsere bis zu 20 Personen starken Arbeitssitzungen abzuhalten, so daß auch größere Projekte wie das – natürlich im Eschhaus selbst über die Bühne gehende – erste nichtstädtische Drei-Tage-Musik-und-Kunstfestival von Duisburg geplant, koordiniert und verwirklicht werden konnten. Daß ich irgendwann anfing, auch kleinere Aushilfstätigkeiten beim Küchen- und Thekendienst zu übernehmen, war für mich dann auch schon fast selbstverständlich, und als der Typ, der den neuen Gitarrenkurs leiten sollte, im Sommer 1977 kurzfristig absagte, war ich halt in die Bresche gesprungen und so nicht nur zu meinem ersten regelmäßigen kleinen Einkommen gekommen [- ich hatte bis dahin weder eine Lehre gemacht noch einen Job gehabt und konnte mir vom elterlichen Taschengeld lediglich ein einziges Glas Apfelsaft pro Eschhausbesuch leisten –], sondern hatte damit auch die Arbeit meines Lebens gefunden (neben meinen künstlerischen Bemühungen, die aber kaum zum Geldverdienen taugten). Und wenn es dem Eschhaus selbst finanziell mal wieder so schlecht ging, daß seine gesamte Existenz auf dem Spiel stand, wurden eben ein paar Benefizveranstaltungen durchgeführt, und es war überhaupt keine Frage, daß die sich dem Haus verbunden fühlenden Musikgruppen und Solisten sich ihrer Möglichkeiten entsprechend daran beteiligten, denn dem Eschhaus zu helfen und es dadurch zu erhalten bedeutete ja auch, den für eigene Aktivitäten wertvollen Lebensraum zu bewahren, was für alle Mitwirkenden natürlich eine sinnvolle und lohnenswerte Aufgabe war.

Das Eschhaus gibt es inzwischen nicht mehr. Es wurde am 1. Mai 1987 geschlossen und vor Ablauf einer einzigen Woche auch schon in Schutt und Asche gelegt. Meine eigene Zeit als Besucher war dort zwar schon drei Jahre vorher zu Ende gegangen [weil ich mich wegen der vielen Punks und ihrer provozierenden Respektlosigkeit einfach nicht mehr wohl gefühlt hatte], aber ich war dennoch ziemlich traurig, als ich von dieser so rasch erfolgenden radikalen Eliminination hörte, denn das Eschhaus ist nun mal der absolut wichtigste Ort für die Entwicklung meiner Persönlichkeit gewesen. Ich habe dort viele Leute getroffen, die mein Tun und Denken nachhaltig beeinflußt haben, habe auf meinem Weg als Künstler dort Übungs-, Auftritts- und Publikationsmöglichkeiten gefunden, habe die Arbeit als Gitarrenlehrer, mit der ich auch heute noch [– ich bin, nach zuvor 6½jähriger Tätigkeit im Eschhaus, seit 1984 Leiter diverser Gitarrenkurse an der Volkshochschule Duisburg –] meinen Lebensunterhalt bestreite, dort beginnen und also erlernen können, und habe auch die wichtigste [inzwischen nur noch zweitwichtigste] Frau meines Lebens dort kennengelernt. Ich habe 10 Jahre lang einen Großteil meiner Zeit im Eschhaus verbracht, habe dort gearbeitet, gefeiert, geträumt, mich unterhalten, andere unterhalten, mich unterhalten lassen, und einmal [nachdem schon Feierabend war] sogar Liebe dort gemacht, habe mich – kurz gesagt – einfach mehr als irgendwo sonst auf der Welt im Eschhaus wirklich zu Hause gefühlt; und was kann man sich von einem Heimatplaneten schon noch mehr wünschen … außer, daß er nicht zerstört werde, natürlich.

(Leider nötiger) Nachtrag:
Ein zentraler Nicht-Kneipen-Jugend-Szene-Treff-Veranstaltungsort fehlt in Duisburg seitdem völlig [Stand: 1994], und die Stadt tut nicht gerade viel, um dem Abhilfe zu schaffen. Zwar wurden sogar einmal [in welchem Jahr, weiß ich aber nicht mehr] 800.000 DM für solch ein Projekt in Aussicht gestellt, doch auch der extra für diesen Zweck (damit es nicht bei der schönen Geste und ansonsten nur leeren Worten bleiben sollte) gegründete „Verein für unabhängige Jugend- und Kulturarbeit in Duisburg“ war letztendlich immer noch auf den guten Mithilfswillen der Stadt angewiesen, und diese bot halt nur ein Haus an der Wörthstraße an, das man einfach ablehnen mußte. Zum einen war seine Lage nicht gerade zentral zu nennen, zum anderen fehlte dort ein größerer konzerttauglicher Veranstaltungsraum, und zum letzten bis allerletzten wollte die Stadt ihre Mitarbeiter im künftigen Beirat auch noch zu 50 und später sogar zu 100 Prozent vertreten wissen, und da bliebe die Unabhängigkeit dann ja doch wohl irgendwie auf der Strecke. Der harte Kern des Vereins machte aber dennoch weiter (zumal die Gelder ja immer noch vorhanden waren), fand ein geeignetes leerstehendes Gebäude im Innenstadtbereich, entwickelte in mehrwöchiger Zusammenarbeit mit anderen Kulturinitiativen ein festes, klares Konzept, reichte es ein – und das war’s dann: Die Stadt reagierte überhaupt nicht darauf. Bei einer späteren Nachfrage bekam man lediglich zur Antwort, daß der Konzeptvorschlag in die allgemeinen Diskussionen mit einfließen würde, woraufhin der Verein den Glauben daran verlor, in dieser Stadt noch etwas bewegen zu können und seine Existenz zutiefst enttäuscht einstellte.

Ich selbst werde das bestimmte Gefühl nicht los, daß die Stadt Duisburg an einem neuen unabhängigen Jugendzentrum mit einem neuen Haufen eigenwilliger junger Menschen gar nicht interessiert ist, vor allem, wenn mir bei meinen Recherchen von verschiedenen Seiten her zu Ohren kommt, daß im Kulturamt die Meinung vertreten sei (oder zumindest mit ihr argumentiert würde), daß es ja gar keine richtige Duisburger Szene gäbe [für die eine Heimstatt zu schaffen sich lohnen würde], denn sonst wäre ja schon längst irgendwo ein Ort daraus entstanden – was natürlich nur gequirlte Scheiße ist, wenn einem in Wahrheit ständig Felsbrocken in den Weg geräumt werden, um ebendiesen Bemühungen keinen Erfolg zu ermöglichen. Außerdem würde eine Szene sich durch ein eigenes Zenrum erst richtig herauskristallisieren und wachsen können, denn in irgendeiner Kneipe hätte sich das, was – vor allem in den 70er Jahren – im Eschhaus entstanden ist, garantiert nicht auf gleiche Weise so großartig entwickeln können.

Daß es durchaus aber auch anders gehen kann, zeigt schon ein kleiner Seitenblick auf unser nicht einmal halb so großes Nachbarsystem Oberhausen, in dem gleich zwei unabhängige und von der Stadt etwas mitunterstützte Jugendkultursterne ihre Bahn ziehen, doch scheint so etwas in „Duisburg am Rhein, [die Stadt] im Herzen Europas“ (wie ihr neuer Poststempel voller Stolz verkündet) einfach nicht machbar zu sein, so daß dieses recht einfältige Stempelmotto in Bezug auf den Jugendkulturbereich wohl doch treffender „Duisburg, am Arsch des Ruhrgebiets“ lauten sollte (was vielleicht sogar noch harmlos ausgedrückt wäre angesichts des Gedankens, daß Duisburg in ganz Europa womöglich die einzige Stadt mit mehr als 500.000 Einwohnern ist, die kein – ob unabhängig oder nicht – multikulturelles Zentrum besitzt), oder ganz geradlinig, schlicht und einfach nur: „Duisburg? Vergiß es!“

 

 


Gedicht für Tina

Im Juni 2016 habe ich erfahren, daß Tina Hellebrand (geb. Eberlein) vor ein paar Monaten im Alter von 50 Jahren gestorben ist.

Ich hatte Tina 1981 im Eschhaus kennengelernt, als sie einen meiner dortigen Gitarrenkurse besuchte. Diese Kurse sahen damals noch ein wenig anders aus als heute, denn weil mein Lieder-Repertoire in der Eschhauszeit so gut wie keine Cover-Versionen beinhaltete, war mein Unterricht fast ausschließlich auf pelikanesischen Eigenkompositionen aufgebaut. Da die meisten dieser Lieder einen autobiographischen Hintergrund besaßen, redeten wir zwischen den Übungseinheiten auch schon mal über ihre textliche Komponente, was ein viel persönlicheres Verhältnis zwischen Lehrer und Schülern hat entstehen lassen, als es heutzutage in meinen Volkshochschulkursen der Fall ist. Und so kam es, daß die sehr aufgeweckte 15jährige Tina [nur entspannt in eine Kamera zu schauen hatte sie damals einfach nicht drauf] und der noch lange nicht wirklich erwachsen gewesene 27jährige Pelikan recht gute Freunde geworden sind, die einander auch außerhalb des Gitarrenkurses häufig getroffen haben.

Eines abends im Eschhaus sagte ich mal zu ihr: „Du, sollen wir nicht in 10 Jahren heiraten?“ – „Gute Idee“, antwortete sie, „aber wen?“, und lächelte mich verschmitzt an.
mmDoch es sollten weit weniger als 10 Jahre vergehen, bis Tina ihren Traummann in Person des Duisburger Künstlers Andy Hellebrand fand, und weil sie und ich auch über die Eschhauszeit hinaus miteinander befreundet geblieben sind, ist dann auch Andy einer meiner geschätzten Bekannten geworden.

In den 90er Jahren brauchte ich für eine Konzertaufführung von Bill Ramseys „Canary Blues“ in der Säule mal einen piepsenden Kanarienvogel. Weil ich einen solchen aber weder besaß noch ihn durch brutales Quetschen im Refrain des Liedes zu den benötigten Piepsern „bewegen“ wollte, entschied ich mich statt dessen für Kinderspielzeug. Da ich selbst aber keine Kinder hatte, mußte ich in meinem Bekanntenkreis auf die Suche gehen, bin schließlich im Kinderzimmer von Tinas Tochter fündig geworden und habe von ihr für meinen Auftritt ein kleines braunes Quietsche-Bärchen geliehen bekommen [dessen gequetschten Einsatz man übrigens auf der CD „A.S.H. Pelikan – Besser als nichts“ verfolgen kann].

Einige Monate zuvor: Ich hatte im Steinbruch eine Art Comeback-Konzert, nachdem ich (wegen meiner Midlife-Krise oder so) mehr als anderthalb Jahre lang nicht mehr öffentlich aufgetreten war. Daß es mir damals nicht so wanhsinnig gut ging, bezeugte auch mein sieben Monate alter Vollbart, hinter dem ich mich (und meine Unsicherheit) in dieser Zeit zu verstecken versuchte. „Was hast du denn gemacht?“ ist einmal der spontan-entgeisterte Kommentar eines alten Bekannten, der mich ein Jahr lang oder so nicht mehr gesehen hatte, zu meinem neuen Outfit gewesen. [„Nix“, hatte ich übrigens geantwortet.]
mmUnd ähnlich muß es auch Tina ergangen sein, als wir uns vor dem Konzert, das sie mit ihrem Mann Andy zusammen besuchte, trafen, denn sie schaute sich meinen Rauschebart ein paar Sekunden lang prüfend an, schüttelte dann langsam den Kopf und sagte in ernsthaftem Ton: „Versprich mir, daß du den wieder abrasierst.“ – „Okay, mach ich“, erwiderte ich sogleich, und freute mich schon auf ihr Gesicht in einer guten Stunde. Seit Wochen hatte ich nämlich schon vorgehabt, den Bart in der Pause dieses Konzertes komplett zu entfernen, was ich mit Hilfe eines Freundes und seiner Haarschneidemaschine dann im Backstageraum auch in die Tat umsetzte. Und so ging ich zum 2. Teil des Programms leicht verändert wieder auf die Bühne und tat so, als wenn überhaupt nichts passiert wäre. Tina war begeistert.

Zu Ende des Jahrhunderts bezogen die Hellebrands schließlich ihr neues Domizil mit Raum für eine Kunstgallerie am Philosophenweg, wo ich auch einige Male gewesen bin; zuletzt vor 5 Jahren, als ich Tina eine meiner CDs vorbeibrachte, weil sich darauf auch 10 Lieder befanden, die von meinem Eschhaus-Konzert im Oktober 1980 stammten, bei dem sie mich wahrscheinlich zum ersten Mal live gesehen hatte (was vielleicht auch den Anstoß dazu gab, im neuen Jahr in meinen Gitarrenkurs zu gehen) und das sie immer den „20-Pfennig-Auftritt“ nannte. Ich hatte nämlich pro Person nur 20 Pfennig Eintritt genommen, um dem weltweiten Alles-wird-teurer-Trend mal energisch entgegenzuwirken – was den Trend letztendlich aber nicht die Bohne gekümmert hat.

Und was fällt mir sonst noch ein? Ach ja: Im Mai des Jahres 2000 kam mir mal die verrückte Idee, zum nächstwöchigen Geburtstag meiner damaligen (und auch wieder heutigen) Lieblingsfrau ein ca. 2 x 2 Meter großes Labyrinth-Puzzle zu basteln. Nur hatte ich leider überhaupt nicht den benötigten Platz dafür, und wenn das Geschenk also realisiert und auch pünktlich fertig werden sollte, brauchte ich dringend einen Ort mit deutlich größerer Grundfläche als der meines Zimmers, der auch nicht mit allzu vielen Möbeln vollgestellt sein durfte und den ich für mindestens einen Tag (am Ende benötigte ich derer zwei) mit Beschlag belegen müßte. Und geholfen haben mir in der Situation dann Tina und Andy, die mir ohne eine Sekunde zu zögern ihren (damals noch nicht eröffneten) Atelier & Galerie-Raum dafür zur Verfügung stellten.
mmUnd spätestens an dieser Stelle wird mir wieder mal klar, wie arm wir doch ohne solche Freunde wären, die einem auch dann noch zugeneigt sind, wenn man nicht ständig miteinander zu tun hat.

In meinem 1981er Tagebuch (das Jahr, in dem ich sie kennenlernte) wird Tina in mehr als 2 Dutzend Einträgen erwähnt. Hier ist einer davon.
Freitag, 17. Juli 1981:
mm„Heute morgen eine Lesung in Rheinhausen gehabt. Danach habe ich mich in Duisburg absetzen lassen und prompt die Tina getroffen. Wir waren Eis essen, Bücher gucken, ein Hemd abholen und Schuhe kaufen. War toll, hat viel Spaß gemacht. Und morgen gehe ich mit ihr auf eine Party.“

Und noch zwei Sätze aus einem Brief an Tina aus dem darauffolgenden Jahr:
mmErster Satz: „Tina Darling, ich habe von dir geträumt heute nacht, und zwar, daß ich dich kennenlernen würde. Du warst genau so, wie du bist, nur kannte ich dich halt noch nicht.“
mmLetzter Satz: „…ich kann Menschen im Augenblick einfach nicht besonders gut ertragen. Doch du bist eine Ausnahme, mit dir treffe ich mich sogar noch nachts im Traum.“

Ich habe in jenen Tagen auch mal ein Lied für Tina komponiert, das leider aber nicht zu meinen guten zählte, so daß ich es insgesamt auch nur zweimal live gespielt habe. An die Musik kann ich mich überhaupt nicht mehr erinnern, während mir vom Text immerhin noch die letzten beiden Refrainzeilen im Gedächtnis geblieben sind: „… and here comes Tina, dancing right into my heart.“ – Und dort wird sie auch auf ewig ihren Platz behalten.

Und nachfolgendes Gedicht habe ich am 1. August 1981 um 4 Uhr nachts für sie geschrieben:

sei lieb
und lächele
wie gestern nachmittag
und werd schnell
10 jahre älter
oder 5
aber bleib nicht
so lange 15
lächelnd
wie gestern nachmittag