1. Mai 2017
Im Winter 1993/94 bekam ich das schmeichelhafte Angebot, an einem Buch zum Thema Duisburg mitzuwirken. Verschiedene Autoren waren gebeten worden, über den Stadtteil zu schreiben, der ihnen zur Heimat geworden war, und man lud mich ein, einen Text über Wanheimerort beizusteuern. Doch obwohl ich diesen Stadtteil, in dem ich seit 40 Jahren lebte, gut kannte und auch wirklich mochte, wollte sich einfach kein rechtes mich zum Schreiben drängendes Heimatgefühl einstellen, so daß ich kurz davor stand, meine bereits erfolgte Zusage wieder rückgängig zu machen, als mir noch ein ganz anderer Ort in den Sinn kam, der für mich mehr als alles andere auf der Welt wirklich Heimat bedeutet hatte. Und so schrieb ich am Ende nicht über Wanheimerort, sondern übers Eschhaus.
Und weil es heute auf den Tag genau 30 Jahre her ist, daß das Eschhaus geschlossen wurde, habe ich meinen Beitrag aus der im Oktober 1994 im Mercator-Verlag erschienenen Anthologie “Duisburg auf den zweiten Blick” jetzt noch einmal hervorgekramt. Diese Erinnerungen stellen meinen ersten Versuch dar, etwas Essay-artiges zu Papier zu bringen, und auch wenn ich das Ganze heutzutage etwas anders angehen würde, sind meine Gefühle und Meinungen doch immer noch dieselben wie damals. Ich habe nachfolgenden, 23 Jahre alten Text aber noch mal durchgesehen und an manchen Stellen ein klein wenig verändert, sowie noch um ein paar [kursiv in eckige Klammern gesetzte] zusätzliche Informationen erweitert.
Heimatplanet
Mein Universum heißt Erde, meine Galaxis Deutschland, und mein Sonnensystem Duisburg. Es ist ein recht großes System mit vielen verschiedenen Welten, und eine davon wurde [als ich 20 Jahre alt war] für die Dauer eines ganzen Jahrzehnts zu meinem Heimatplaneten. Dieser besondere Planet lag auf der Sternenkarte Rhein/Ruhr in Zentralebene 2 des Planquadrats 85/4, trug die astronomische Bezeichnung 32-34 und war durch den Einflugkorridor Niederstraße bequem zu erreichen. Er hatte eine Größe von etwa 5000 m³, eine Schwerebeschleunigung von 9,81 m/s², drehte sich in 23,9345 Stunden einmal um sich selbst und besaß eine äußerst atembare Atmosphäre. Seine Landmasse bestand aus einem runden Dutzend Kontinente, welche Café, Sport- und Tagungsraum, Grüner Salon, Blauer Salon, Teestube, Büro, Veranstaltungsraum, Werkraum, Buchladen, Abstellraum 1, Abstellraum 2 und so weiter genannt worden waren. Die Bewohner dieser Welt waren ein humanoides, friedfertiges und recht bunt gemischtes junges Volk, das sich – laut Aussage eines intergalaktischen Völkerkundlers – aus Hippies, Ökos, Alternativen, Anti-Atomlern, Punkern, Schwulen, Lesben, Anarchos, Makrobioten, Afro- und Xenophilen, Hanffreunden, Autonomen, Antifaschisten, Frauenbewegten, Solarbastlern, Folkies, Rockfans, Musikern, Kabarettisten, Tänzern, freien Theaterschaffenden, Teetrinkern, Naturköstlern, Existenzgründern, Cineasten, Zivis, Totalverweigerern, Sozialhilfeempfängern, Internationalisten, Motorradliebhabern, Multimediaartisten und vielen anderen mehr zusammensetzte, die alle relativ normal bis ganz schön seltsam redeten, allerdings nie so hochtrabend wie der Autor von einem “Planeten” schwafelten, sondern einfach nur “Eschhaus” dazu sagten. Und dieses Eschhaus war im Grunde genommen nichts anderes als ein Jugendzentrum, jedoch ein vollkommen selbstverwaltetes und damit doch schon etwas ziemlich Besonderes.
Allein das Programmangebot war schon nicht von städtischen Eltern: Man konnte Konzerte besuchen, Theateraufführungen, den Film am Mittwoch oder samstags auch ganze Filmnächte, Malerei- und Fotoausstellungen, Dia- und Videovorführungen, zu Diskussionen gehen, zum Tanzen ins Rockcafé, bei Musiksessions mitmachen, Billard und Tischtennis spielen, Musik hören, was essen und trinken, Zeitungen lesen, im Buchladen stöbern, sonntags zum Frühstücken kommen, kostenlose Beratung bei medizinischen, psychologischen und juristischen Fragen erhalten, an einem der über 50 Kurse des Weiterbildungsprogramms teilnehmen oder einfach nur im Café sitzen um zu gucken und Leute zu treffen.
Als ich im August 1974, wenige Tage nach Inbetriebnahme – die offizielle Eröffnung sollte allerdings erst Ende Oktober stattfinden – zum ersten Mal einen Fuß ins Eschhaus setzte (ein unbedeutender Schritt für die Menschheit, jedoch ein lebensbeeinflussender für mich), steckte die Erschließung desselben noch sichtlich in den Kinderschuhen. Die Getränke- und Küchentheke zum Beispiel war wenig mehr als eine ordentlich zusammengezimmerte Bretterbude (die monumentale Steinversion sollte erst nach dem Anfang 1976 erfolgten Brand im Haus das Licht dieses Planeten erblicken), und wenn man die Treppe vom Café zur ersten Etage hinaufstieg, gelangte man (wo später ein Flur zu drei neuerschaffenen Zimmerkontinenten führen würde) in einen einzigen großen kargen Raum, dem ein einsamer Schreibtisch nebst Aktenschrank nur wenig glaubhafte Büroraumstimmung zu verleihen vermochte. Es war alles noch sehr primitiv und ein bißchen durcheinander, eben nach eigenen Kräften hausgemacht, und genau das gefiel mir ausnehmend gut. Die Atmosphäre war einfach nicht so abgestanden wie in ähnlichen Einrichtungen, und schiefe Blicke wegen mangelnden Konsumverhaltens brauchte man hier auch nicht zu befürchten.
Über die Entstehungsgeschichte und die Hürden, welche die Streiter für ein unabhängiges Jugendzentrum zu überwinden hatten, um den Laden überhaupt erstmal auf die Beine zu stellen und ihn allen Angriffen und vielfältigen Problemen zum Trotz auch noch bis ins dreizehnte Jahr hinein auf denselben zu halten, vermag ich – da mich dieses Thema damals [als ziemlich einfältiger Hippie und sehr unpolitischer Mensch] kaum interessiert hatte – allerdings kaum etwas zu sagen. Ich hatte 1972 oder so zwar mal an einer großen Wir-wollen-ein-eigenes-Jugendzentrum-haben-Hausbesetzung auf der Kolonie- oder Wildstraße teilgenommen, aber wohl weniger aus Überzeugung zur Sache, sondern vielmehr, weil an dem Tag da eben was los war. Politisches Verantwortungsbewußtsein gehörte damals nicht zu meinen Tugenden, und die späteren eschhausinternen Debatten haben mich auch eher gelangweilt als interessiert, doch fühlte ich mich als häufiger Gast des Hauses zumindest dazu verpflichtet, bei jeder öffentlichen Vollversammlung anwesend zu sein. Einerseits, um meine Solidarität zu dieser Gemeinschaft zu bekunden, und andererseits um mitzuhelfen, die “richtigen” Leute für den siebenköpfigen Beirat (der Quasi-Regierung des Hauses) zu wählen.
[Hier noch meine Lieblingserinnerung an eine dieser Versammlungen: Ein in der damaligen Szene nicht unbekannter Duisburger Künstler, der aber nur äußerst selten im Eschhaus als Besucher zu sehen gewesen war, tauchte überraschend bei einer Vollversammlung auf, um für den Beirat zu kandidieren. In seiner Vorstellungsrede erwähnte er großspurig auch einige seiner Studienreisen, die ihn in den letzten Jahren sogar bis nach Indien geführt hätten und berichtete weiter, daß er demnächst auch einige Monate in Afrika zur künstlerischen Fortbildung verbringen würde. Nachdem er seinen Vortrag schließlich beendet und sich wieder gesetzt hatte, stand jemand anderes auf und stellte ihm folgende Frage: “Wie gedenkst du, die Interessen des Eschhauses in Afrika zu vertreten?” Wodurch – als das allseitige Gelächter beendet war – die Wahlaussichten des Kandidaten faktisch auf null gesunken waren.]
Neben der Pflichtübung meiner Teilnahme an den Vollversammlungen blieben meine Tätigkeiten im Haus zu Anfang auf reines Besucherverhalten beschränkt (hinkommen, rumhängen, quatschen, abhauen), doch begannen die weitaus größeren Möglichkeiten, sich am eschhäuslichen Leben zu beteiligen, mich mit der Zeit dann auch allmählich zu erreichen und etwas einzuspannen. Das monatlich erscheinende Eschhausheft zum Beispiel brachte mich dazu, hin und wieder auch einen kleinen Artikel dafür zu verfassen, und die Bühnen in Café und Veranstaltungsraum luden zur Vorstellung von musikalischen Werken ja geradezu ein. Die Gründung einer regelmäßig im Grünen (oder Blauen?) Salon tagenden Musikerinitiative brachte mir schließlich die Bekanntschaft einer Menge neuer Leute (von denen der eine oder andere in späteren gemeinsamen Bands eine wichtige Rolle spielen sollte), und als literarisches Gegenstück zur “Kooperative Montan Musik” fing dann auch noch das OTZ Konzern/Kollektiv im Hause an zu keimen, zu sprießen und erste Blüten in Form von kleinen Büchlein (auch ein paar von Pelikan) zu treiben, die im Eschhausbuchladen sogar käuflich zu erwerben waren. Als die Aktivitäten des Konzerns ob zusätzlicher Abteilungen sowie einer deutlich gewachsenen Mitarbeiterzahl immer unübersichtlicher zu werden begannen, durften wir sogar den Dienstag (an dem offiziell geschlossen war) nutzen, um in Ruhe im Eschhaus-Café unsere bis zu 20 Personen starken Arbeitssitzungen abzuhalten, so daß auch größere Projekte wie das – natürlich im Eschhaus selbst über die Bühne gehende – erste nichtstädtische Drei-Tage-Musik-und-Kunstfestival von Duisburg geplant, koordiniert und verwirklicht werden konnten. Daß ich irgendwann anfing, auch kleinere Aushilfstätigkeiten beim Küchen- und Thekendienst zu übernehmen, war für mich dann auch schon fast selbstverständlich, und als der Typ, der den neuen Gitarrenkurs leiten sollte, im Sommer 1977 kurzfristig absagte, war ich halt in die Bresche gesprungen und so nicht nur zu meinem ersten regelmäßigen kleinen Einkommen gekommen [- ich hatte bis dahin weder eine Lehre gemacht noch einen Job gehabt und konnte mir vom elterlichen Taschengeld lediglich ein einziges Glas Apfelsaft pro Eschhausbesuch leisten –], sondern hatte damit auch die Arbeit meines Lebens gefunden (neben meinen künstlerischen Bemühungen, die aber kaum zum Geldverdienen taugten). Und wenn es dem Eschhaus selbst finanziell mal wieder so schlecht ging, daß seine gesamte Existenz auf dem Spiel stand, wurden eben ein paar Benefizveranstaltungen durchgeführt, und es war überhaupt keine Frage, daß die sich dem Haus verbunden fühlenden Musikgruppen und Solisten sich ihrer Möglichkeiten entsprechend daran beteiligten, denn dem Eschhaus zu helfen und es dadurch zu erhalten bedeutete ja auch, den für eigene Aktivitäten wertvollen Lebensraum zu bewahren, was für alle Mitwirkenden natürlich eine sinnvolle und lohnenswerte Aufgabe war.
Das Eschhaus gibt es inzwischen nicht mehr. Es wurde am 1. Mai 1987 geschlossen und vor Ablauf einer einzigen Woche auch schon in Schutt und Asche gelegt. Meine eigene Zeit als Besucher war dort zwar schon drei Jahre vorher zu Ende gegangen [weil ich mich wegen der vielen Punks und ihrer provozierenden Respektlosigkeit einfach nicht mehr wohl gefühlt hatte], aber ich war dennoch ziemlich traurig, als ich von dieser so rasch erfolgenden radikalen Eliminination hörte, denn das Eschhaus ist nun mal der absolut wichtigste Ort für die Entwicklung meiner Persönlichkeit gewesen. Ich habe dort viele Leute getroffen, die mein Tun und Denken nachhaltig beeinflußt haben, habe auf meinem Weg als Künstler dort Übungs-, Auftritts- und Publikationsmöglichkeiten gefunden, habe die Arbeit als Gitarrenlehrer, mit der ich auch heute noch [– ich bin, nach zuvor 6½jähriger Tätigkeit im Eschhaus, seit 1984 Leiter diverser Gitarrenkurse an der Volkshochschule Duisburg –] meinen Lebensunterhalt bestreite, dort beginnen und also erlernen können, und habe auch die wichtigste [inzwischen nur noch zweitwichtigste] Frau meines Lebens dort kennengelernt. Ich habe 10 Jahre lang einen Großteil meiner Zeit im Eschhaus verbracht, habe dort gearbeitet, gefeiert, geträumt, mich unterhalten, andere unterhalten, mich unterhalten lassen, und einmal [nachdem schon Feierabend war] sogar Liebe dort gemacht, habe mich – kurz gesagt – einfach mehr als irgendwo sonst auf der Welt im Eschhaus wirklich zu Hause gefühlt; und was kann man sich von einem Heimatplaneten schon noch mehr wünschen … außer, daß er nicht zerstört werde, natürlich.
(Leider nötiger) Nachtrag:
Ein zentraler Nicht-Kneipen-Jugend-Szene-Treff-Veranstaltungsort fehlt in Duisburg seitdem völlig [Stand: 1994], und die Stadt tut nicht gerade viel, um dem Abhilfe zu schaffen. Zwar wurden sogar einmal [in welchem Jahr, weiß ich aber nicht mehr] 800.000 DM für solch ein Projekt in Aussicht gestellt, doch auch der extra für diesen Zweck (damit es nicht bei der schönen Geste und ansonsten nur leeren Worten bleiben sollte) gegründete “Verein für unabhängige Jugend- und Kulturarbeit in Duisburg” war letztendlich immer noch auf den guten Mithilfswillen der Stadt angewiesen, und diese bot halt nur ein Haus an der Wörthstraße an, das man einfach ablehnen mußte. Zum einen war seine Lage nicht gerade zentral zu nennen, zum anderen fehlte dort ein größerer konzerttauglicher Veranstaltungsraum, und zum letzten bis allerletzten wollte die Stadt ihre Mitarbeiter im künftigen Beirat auch noch zu 50 und später sogar zu 100 Prozent vertreten wissen, und da bliebe die Unabhängigkeit dann ja doch wohl irgendwie auf der Strecke. Der harte Kern des Vereins machte aber dennoch weiter (zumal die Gelder ja immer noch vorhanden waren), fand ein geeignetes leerstehendes Gebäude im Innenstadtbereich, entwickelte in mehrwöchiger Zusammenarbeit mit anderen Kulturinitiativen ein festes, klares Konzept, reichte es ein – und das war’s dann: Die Stadt reagierte überhaupt nicht darauf. Bei einer späteren Nachfrage bekam man lediglich zur Antwort, daß der Konzeptvorschlag in die allgemeinen Diskussionen mit einfließen würde, woraufhin der Verein den Glauben daran verlor, in dieser Stadt noch etwas bewegen zu können und seine Existenz zutiefst enttäuscht einstellte.
Ich selbst werde das bestimmte Gefühl nicht los, daß die Stadt Duisburg an einem neuen unabhängigen Jugendzentrum mit einem neuen Haufen eigenwilliger junger Menschen gar nicht interessiert ist, vor allem, wenn mir bei meinen Recherchen von verschiedenen Seiten her zu Ohren kommt, daß im Kulturamt die Meinung vertreten sei (oder zumindest mit ihr argumentiert würde), daß es ja gar keine richtige Duisburger Szene gäbe [für die eine Heimstatt zu schaffen sich lohnen würde], denn sonst wäre ja schon längst irgendwo ein Ort daraus entstanden – was natürlich nur gequirlte Scheiße ist, wenn einem in Wahrheit ständig Felsbrocken in den Weg geräumt werden, um ebendiesen Bemühungen keinen Erfolg zu ermöglichen. Außerdem würde eine Szene sich durch ein eigenes Zenrum erst richtig herauskristallisieren und wachsen können, denn in irgendeiner Kneipe hätte sich das, was – vor allem in den 70er Jahren – im Eschhaus entstanden ist, garantiert nicht auf gleiche Weise so großartig entwickeln können.
Daß es durchaus aber auch anders gehen kann, zeigt schon ein kleiner Seitenblick auf unser nicht einmal halb so großes Nachbarsystem Oberhausen, in dem gleich zwei unabhängige und von der Stadt etwas mitunterstützte Jugendkultursterne ihre Bahn ziehen, doch scheint so etwas in “Duisburg am Rhein, [die Stadt] im Herzen Europas” (wie ihr neuer Poststempel voller Stolz verkündet) einfach nicht machbar zu sein, so daß dieses recht einfältige Stempelmotto in Bezug auf den Jugendkulturbereich wohl doch treffender “Duisburg, am Arsch des Ruhrgebiets” lauten sollte (was vielleicht sogar noch harmlos ausgedrückt wäre angesichts des Gedankens, daß Duisburg in ganz Europa womöglich die einzige Stadt mit mehr als 500.000 Einwohnern ist, die kein – ob unabhängig oder nicht – multikulturelles Zentrum besitzt), oder ganz geradlinig, schlicht und einfach nur: “Duisburg? Vergiß es!”