Am Beispiel meiner Familie: Von Flüchtlingen und Zuwanderern

Mein Vater und meine Mutter in ihren frühen 20ern

Mein Vater ist 1921 in Duisburg geboren worden, meine Mutter 1922 in Wattenscheid (das heute zu Bochum gehört). Ich selbst habe – mit nur wenigen Ausnahmen, die aber nie länger als ein paar Monate gedauert haben – mein ganzes Leben in Duisburg verbracht, und weil das Interesse an Wo kommen meine Vorfahren eigentlich her? bei mir erst sehr spät geweckt worden ist, habe ich mich vier Jahrzehnte lang als reinrassiger Ruhrgebietler gefühlt, der mit Flüchtlingen oder Zuwanderern und so nicht das geringste zu tun hatte. Schließlich waren meine Eltern ja beide aus dem Kohlenpott.

Wenn ich aber nur eine Generation weiter zurückgeblickt hätte, wäre mir der Migrationshintergrund meiner Familie sogleich klargeworden, denn:
– Mein Großvater Wilhelm Pelikan wurde in Perbanden geboren.
– Seine Frau Hedwig (geborene Groß) kam in Hanswalde zur Welt.
– Meine andere Großmutter, die auf den hübschen Vornamen Adina und den etwas schwer über die Zunge gehenden Nachnamen Sbrzesny hörte, hat das Licht der Welt in Canditten erblickt.
– Und lediglich mein Großvater Ernst Szablinsky, dessen Vater aus Kurziontken stammt, ist schon im heutigen Deutschland (in Wattenscheid) geboren worden.

Die Namen Perbanden, Hanswalde, Canditten und Kurziontken sind aber auf keiner aktuellen Landkarte mehr zu finden, weil diese Ortschaften inzwischen Przebędowo, Jachowo, Kandyty und Kurczątki heißen und in Polen liegen.

Mein Großvater Wilhelm Pelikan (rechts) mit einem Feuerwehrkollegen in den 1920er Jahren

Wilhelm Pelikan, 1879 in Perbanden im Kreis Heiligenbeil in Ostpreußen geboren, ist gelernter Schneider gewesen. Von 1901 bis 1903 leistete er seinen Militärdienst in Lothringen ab und ging anschließend nach Wattenscheid, wo er eine Zeitlang als Geselle bei einem Schneidermeister, der ebenfalls aus Heiligenbeil stammte und außerdem noch ein Urgroßonkel mütterlicherseits von mir war, arbeitete. Im Alter von 25 Jahren ging Wilhelm dann nach Duisburg, wo er im April 1905 der erst im Vorjahr gegründeten Berufsfeuerwehr auf der Friedenstraße in Hochfeld (wo heute das Kulturzentrum “Alte Feuerwache” untergebracht ist) beitrat. Die Berufsfeuerwehr nahm damals nur Männer auf, die ein Handwerk (Schneider, Schuster, Zimmermann, Schreiner, Schlosser und Ähnliches) gelernt hatten, das auch der neuen Arbeitsstelle zugute kommen würde, und im Fall meines Opas, des Schneiders, wird man sich deshalb leicht denken können, daß er eine Menge Zeit mit Nähen und Ausbessern von Uniformen zugebracht hat. Aber auch Hufschmiede dürften vor rund 100 Jahren in diesem Berufszweig gute Chancen gehabt haben, da dem Dienstplan der Duisburger Berufsfeuerwehr von 1919 nämlich zu entnehmen ist, daß neben den normalen Beschäftigungen (wie handwerkliches Arbeiten, Putz- und Reinigungstätigkeiten, Unterweisungen, Turnen und Exerzieren) auch Stalldienst zu verrichten war:
6:30 Pferde füttern und tränken.
7:30 Stall reinigen, Geschirr reinigen, Pferde putzen.
11:00 erneut Pferde füttern und tränken.
Mittags folgten dann Wachwechsel und Probealarm, und für die Männer der nächsten Schicht hieß es ebenfalls wieder Pferde füttern, tränken, putzen sowie Stall und Geschirr reinigen bis zum nächsten Probealarm um 8 Uhr abends. Und der letzte Tagesordnungspunkt lautete Licht aus! und war für 10:30 anberaumt.

Im Hof des Wanheimerorter Hauses: Halbtante Frieda, Großonkel Otto, Oma Hedwig, Opa Wilhelm, und der Junge vorne ist mein Vater Fritz, 1933

Wilhelm heiratete um 1910 herum eine aus Canditten in Ostpreußen stammende Frau (die interessanterweise die beste Freundin meiner Urgroßmutter mütterlicherseits war, so daß dies schon der zweite Hinweis darauf ist, daß sich der mütterliche und väterliche Zweig meiner Familie gekannt haben, bevor sie in der Eheschließung meiner Eltern 1952 zusammenliefen) und bekam mit ihr vier Kinder, die bis auf eines alle kurz nach der Geburt starben. Und um die Tragödie perfekt zu machen, überlebte auch die Kindsmutter die letzte Geburt nicht, so daß Wilhelm im Mai 1918 (mit gerade mal 38 Jahren) bereits Witwer geworden war und nun allein für seine 6jährige Tochter Frieda sorgen mußte. Um dem Abhilfe zu schaffen, hat er sich zwei Jahre später noch eine neue Ehefrau zugelegt, die er allerdings nicht im Ruhrgebiet fand, sondern in seiner alten Heimat, zu der er nach wie vor engen Kontakt hatte, weil ja seine Eltern und sämtliche fünf Geschwister noch dort lebten. Die Hochzeit meines Großvaters Wilhelm und meiner Großmutter Hedwig wurde im Oktober 1920 in Deutsch Thierau in Ostpreußen abgehalten, und 9 Monate und 1 Woche später kam mein Vater Fritz zur Welt. Des weiteren ist noch erwähnenswert, daß mein Opa (der bis dahin in Hochfeld auf der Friedenstraße, Siechenhausstraße und Reichsstraße – heute Rheinhauser Straße – gewohnt hatte) sich 1929 ein Haus in Duisburg Wanheimerort gebaut hat, in dem auch ich später lange gelebt habe. Kennengelernt habe ich diesen Großvater allerdings nie, weil er 1935 schon gestorben ist.

Etwas mehr als ein Jahrzehnt vor Wilhelm war auch ein anderer junger Mann in seinen frühen 20ern aufgebrochen, um fast 1000 Kilometer von der Heimat entfernt sein Glück zu suchen. Der hohe Bedarf an Arbeitskräften hatte im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts dazu geführt, daß mehr als 150 000 Zuwanderer (vor allem aus den preußischen Ostprovinzen und aus Österreich) ins Ruhrgebiet gezogen waren, zu denen auch Carl Szablinsky, mein ostpreußischer Urgroßvater mütterlicherseits, gehörte. Er fand einen Job als Bergmann in der Zeche Holland in Wattenscheid, heiratete im März 1892 die ebenfalls aus Ostpreußen stammende Emma Brandt und wurde nach Ablauf von 10 Monaten [die hatten’s damals offenbar ziemlich eilig mit dem Kinderkriegen] Vater eines Jungen namens Ernst, der 6 Jahrzehnte später mein anderer Großvater werden sollte.

Ernst Szablinskys Arbeitsleben begann 1907 im Alter von 14 Jahren in einem Wattenscheider Stuckgeschäft, wo er als Schleifer anfing und als Stuckateur endete. Mit 19 Jahren ging er aber, seinem Vater folgend, ebenfalls in den Bergbau, wo er zunächst als Schlepper schuftete, was ca. 100 Kilogramm schwere Tröge durch die Grubengänge zu ziehen bedeutete. Im 1. Weltkrieg, den er sowohl an der Ost- als auch an der Westfront miterlebte, erlitt er 1917 in der Frühlingsschlacht von Arras einen Oberkörperdurchschuß und wurde nach seiner Genesung zum Arbeitsdienst in die Wattenscheider Zeche Centrum versetzt. Zu Beginn der 1920er Jahre wechselte er dann zur Zeche Holland, wo er – mit Ausnahme eines gescheiterten Versuchs, sich als Polier selbständig zu machen – bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1958 als Maurer tätig war.

Meine Urgroßmutter Wilhelmine Sbrzesny mit ihren Kindern Paul und Adina, 1909

Ernsts Frau, meine Großmutter Adina, kam 1896 im ostpreußischen Canditten, Kreis Preußisch Eylau, zur Welt, wo ihr Vater Leopold Sbrzesny (ein weiterer Schneider / die Mehrzahl meiner Ahnen sind allerdings Bauern gewesen) 5 Jahre später (1901) bereits an Tuberkulose verstarb. Zwei Jahre danach folgte Leopolds noch keine 30 Jahre alte Witwe Wilhelmine mit Paul (8 Jahre) und Adina (7 Jahre) ihrer Schwester Johanna und deren Mann August [der sowohl Leopolds Bruder als auch der schon oben erwähnte Schneidermeister war, bei dem mein Opa Wilhelm zeitgleich eine Anstellung fand] ins “Gelobte Land” nach Wattenscheid, wo sie sich in den kommenden Jahrzehnten mehr schlecht als recht als Wäschebüglerin über Wasser hielt.

Wann Ernst Szablinsky und Adina Sbrzesny einander kennengelernt haben, weiß ich nicht, doch bevor sie im Januar 1921 heirateten und im Jahr darauf ein Töchterchen namens Ruth (meine Mutter) bekamen, war noch etwas ganz Besonderes geschehen. Ernsts Vater Carl, seiner Frau Emma und ihren drei Kindern war im Juni 1919 nämlich offiziell erlaubt worden, ihren bisherigen Familiennamen abzulegen und sich künftig Schwertmann zu nennen. Und weil Szabla im Polnischen Säbel bedeutet, ist die Wahl des neuen Namens auch nachvollziehbar [obwohl ich an ihrer Stelle etwas weniger kriegerisch klingendes, wie z. B. Säbeler oder so, gewählt haben würde – oder war der Name von den Behörden ausgesucht worden?]. Die genauen Beweggründe für diesen doch schon ziemlich bedeutenden Schritt sind allerdings nicht überliefert, so daß es reine Spekulation ist, wenn ich vermute, daß es für Carl Szablinsky auch nach 25 Jahren in der neuen Heimat noch immer von Nachteil gewesen sein dürfte, an seinem Namen sogleich als möglicher Zuwanderer erkannt werden zu können … und von dem ein knappes Jahrhundert später guten Klang von Nachnamen wie Schimanski, Podolski oder Lewandowski konnte er damals natürlich noch nichts ahnen.

Die Vorfahren meiner Eltern sind also sämtlich Zuwanderer aus Ostpreußen gewesen, doch hat es in meiner Familie auch echte Flüchtlingsdramen gegeben.

Meine Großmutter Hedwig Pelikan (geborene Groß) aus Hanswalde im Kreis Heiligenbeil in Ostpreußen hatte zwei Brüder, Otto (*1888) und Ernst (*1891), die beide den Beruf des Stellmachers erlernt hatten. [Ein Stellmacher fertigte Räder, Wagen und andere landwirtschaftliche Geräte aus Holz an.] Und weil der elterliche Hof traditionsgemäß dem ältesten Sohn übergeben wurde, zog Ernst in den 1910er Jahren fort, fand Arbeit in der “Sächsischen Waggonfabrik” in Werdau in Sachsen und gründete dort im Jahr 1919 eine eigene Familie. Sein älterer Bruder Otto blieb dagegen in der Heimat, richtete sich im elterlichen Haus eine eigene Werkstatt ein und machte sich als Stellmacher in Hanswalde selbständig. Zu dem Großschen Besitz gehörten neben dem Wohnhaus auch noch 1,5 Morgen Land, auf dem zwar auch einiges angebaut wurde, das den Nahrungsmittelbedarf aber längst nicht decken konnte, so daß Otto sich für seine Arbeit als Stellmacher auch schon mal in Naturalien (Fleisch und Getreide usw.) entlohnen ließ.

Mein Großonkel Otto am Grab seiner Eltern in Hanswalde, 1931

Seine Eltern starben Anfang 1931 im Abstand von nur vier Wochen, und acht Jahre lang war Otto dann ganz alleine, bevor er mit 50 Jahren noch heiratete und fortan glücklich und zufrieden mit seiner Frau Franziska im Haus seiner Vorfahren lebte … bis im sechsten Kriegsjahr die russische Armee in den Kreis Heiligenbeil einmarschierte und das Ehepaar Groß im Februar 1945 – wie Hunderttausende andere auch – Hab und Gut zurücklassen mußte, um bei der Flucht über das zugefrorene Frische Haff (da der Landweg bereits abgeschnitten war) ihr Leben zu retten. Wer es dagegen vorzog, zu bleiben, lief Gefahr, einfach zu verhungern (wie eine meiner Urgroßtanten), oder von plündernden Soldaten erschossen (wie deren Tochter) oder nach Sibirien verfrachtet zu werden. [Trotz aller von den russischen Soldaten verübten Grausamkeiten darf man aber nicht vergessen, daß dies ja “lediglich” Reaktionen auf den 1941 erfolgten deutschen Angriff waren, den Hitler trotz des kaum zwei Jahre zuvor unterzeichneten deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts befohlen hatte.]

Otto und Franziska gelang zwar die Flucht, doch hatten sie kein Glück im Unglück. Sie wurden in dem Städtchen Waren an der Müritz in Mecklenburg aufgenommen, wo Ende 1945 mehr als 6000 Vertriebene aus den deutschen Ostgebieten untergebracht waren. Daß die Lebensbedingungen dort – weil die einheimische Bevölkerung ja selbst kaum genug zu essen hatte – nicht gerade zum besten standen, läßt sich denken, doch wurde es noch wesentlich schlimmer, als eine Typhusepidemie ausbrach, der (neben mehr als 1500 weiteren Menschen) im März 1946 auch Franziska Groß zum Opfer fiel.

4 Generationen: Der Autor dieses Beitrags mit Mutter Ruth, Großmutter Adina und Urgroßmutter Wilhelmine, Juni 1954

Der unglückliche Witwer, der im Verlauf von kaum mehr als einem Jahr Ehefrau, Haus, Hof und Heimat verloren hatte, kam schließlich bei seinem Bruder Ernst in Werdau unter, wo er ebenfalls in der Waggonfabrik als Stellmacher Arbeit fand und bis zu seiner Pensionierung tätig blieb. Als frischgebackener Rentner besuchte er im Juni 1954 dann seine Schwester Hedwig Pelikan in Westdeutschland, um auch seinen 7 Monate alten Großneffen (mich!) einmal zu sehen, und während dieses Aufenthaltes erkrankte er so schwer, daß er bei Ablauf seiner Aufenthaltsgenehmigung nicht mehr zurückzureisen imstande war. Er stellte daraufhin den Antrag, zwecks erweiterter Familienzusammenführung in Duisburg bleiben zu dürfen, was ihm im November ’54 auch gewährt wurde. Und so lebte mein Großonkel Otto dann von 1954 bis ’71 mit uns [meiner Großmutter (die 1960 verstarb), meinen Eltern, meiner 1955 geborenen Schwester Inge und mir – und bis 1956 auch noch mit einem fremden Ehepaar, das nach dem Krieg die ganze 1. Etage unseres Einfamilienhauses zugewiesen bekommen hatte und jahrelang keine Anstalten machte, sich eine andere Wohnung zu suchen, um den Eigentümern ihren dringend benötigten Wohnraum zurückzugeben. 1955/56 lebte dieses Ehepaar auf 35 m², während die inzwischen 6köpfige Familie Pelikan/Groß mit den übrigen 45 m² auskommen mußte] unter einem Dach in dem Häuschen, das mein Opa Wilhelm zu Ende der 1920er Jahre gebaut hatte. 1971 wurde Otto nach einem Waldspaziergang beim gedankenverlorenen Überqueren einer Straße von einem Auto erfaßt und brachte noch vier Jahre in einem Pflegeheim in Mülheim an der Ruhr zu, wo er schließlich, fast 87jährig, starb. Und noch Jahre später fanden wir – was in Ostpreußen vielleicht so üblich war, wenn man etwas zu entsorgen hatte (?) – beim Umgraben im Garten (welcher Großonkel Otto zur Bewirtschaftung und Pflege überlassen worden war) kleine Andenken an ihn: jede Menge Ziegelsteine zum Beispiel, und einmal sogar eine ganze Zinkwanne.

Ottos Schwager – mein Feuerwehrmann-Opa – hatte fünf Geschwister, von denen vor allem Gustav, der Älteste, mit zwölf Kindern (die zwischen 1901 und 1924 geboren wurden) für Nachwuchs gesorgt hat. Von Gustavs vier Söhnen fielen zwei im 2. Weltkrieg, und von seinen acht Töchtern kam die jüngste auf der Flucht übers Frische Haff ums Leben, während eine andere dabei ein Bein verlor. Man muß sich das nämlich so vorstellen, daß man nicht einfach nur aufs Eis zu gehen und zu hoffen brauchte, daß es hält (was bei den teils sehr schwer beladenen Wagen nämlich auch nicht immer der Fall gewesen ist), sondern daß der Flüchtlingsstrom auch immer wieder von Tieffliegern beschossen wurde. Von den überlebenden Kindern meines Großonkels Gustav Pelikan haben sich gleich mehrere in Duisburg und Umgebung niedergelassen, so daß es mir in den 90er Jahren (als ich anfing, mich für Ahnenforschung zu interessieren) noch möglich war, zwei davon persönlich zu befragen. Zum einen die damals schon 80jährige Anna, sowie ihre Schwester Gertrud, die auch mit Mitte 70 noch – trotz ihres künstlichen Beins – sehr agil unterwegs war.

Großtante Auguste Pelikan, Großvater Ernst Schwertmann, sowie der anscheinend nicht besonders gutgelaunte Erzähler, Mai 1969

Deutlich mehr hatte ich aber mit deren beider Tante, der jüngsten Schwester meines Großvaters Wilhelm, zu tun gehabt. Auguste Pelikan war 1891 in Stolzenberg (Kreis Heiligenbeil) geboren worden, wo sich ihr Vater (und mein Urgroßvater) Gottlieb Pelikan in den 1880er Jahren einen Bauernhof gekauft hatte, der etwa 3 km von Gut Pellen entfernt lag, wo er als Arbeiter angestellt und auch in der dortigen Schnapsbrennerei [ein Uropa als Schnapsbrenner – cool, ‘ne?] tätig gewesen war. Seine Tochter Auguste ist – nachdem ihr Verlobter im ersten Weltkrieg gefallen war – unverheiratet geblieben und hat den elterlichen Hof schließlich bis 1945 alleine bewirtschaftet. Der Besitz bestand aus einem Bauernhaus mit drei Räumen nebst Stallungen und Scheune (alles unter einem Dach) plus 2 ha Land (was einer Fläche von etwas mehr als zwei Fußballfeldern entspricht), das folgendermaßen genutzt wurde:
1 ha Äcker (Roggen, Hafer, Kartoffeln und Klee)
½ ha Wiese
¼ ha Weide
¼ ha Obst- und Gemüsegarten.
Und davon konnte meine Großtante Auguste (zumal sie auch noch ein Rind, ein paar Schweine und etliche Hühner besaß) leben und mußte zur Erntezeit sogar Tagelöhner einstellen.

Am 7. Februar 1945 kam aber auch für sie das Aus, als sie ebenfalls alles zurücklassen und sich auf die Flucht übers Eis begeben mußte.

Großtante Auguste war Mitte 50, als sie ihre Existenzgrundlage verlor und – in Duisburg eingetroffen – nochmal neu anfangen mußte. Daß der Wert ihres ostpreußischen Haus- und Grundbesitzes auf stattliche 15 000 Reichsmark geschätzt wurde, ist ihr leider von keinerlei Nutzen gewesen, und so hat sie nach dem Krieg noch einige Jahre als Küchenhilfe im Duisburger Bethesda-Krankenhaus gearbeitet, bevor sie aus Altersgründen ausscheiden und von Sozialhilfe leben mußte. Von 1953 an hat sie ihre letzten drei Lebensjahrzehnte in einem einzigen Zimmer ohne Küche und ohne Bad – mit Wasserhahn im Hausflur und dem Klo eine halbe Treppe tiefer – auf der Paulusstraße in Hochfeld verbracht. Ich habe Fräulein Pelikan (wie sie bis zum Ende ihres Lebens genannt werden wollte) häufig als eine einer anderen Zeit entsprungene Person empfunden, die sich trotz ihrer ärmlichen Lebensumstände (sie hatte auch nie ein Telefon oder einen Fernsehapparat) aber niemals beklagt hat. Und sie ließ es sich auch nicht nehmen, jedes Jahr an Heiligabend (weil keine Straßenbahnen mehr fuhren und sie ohnehin lieber zu Fuß ging) von Hochfeld nach Wanheimerort zu laufen, um an der Weihnachtsfeier im Haus meiner Eltern teilzunehmen. Auch den nächtlichen Rückweg erledigte sie zu Fuß, und erst mit über 80 (sie ist 92 Jahre alt geworden) gestattete sie es ihrem Neffen (meinem Vater), sie wenigstens mit dem Auto zurückzubringen.

Postkarte von 1935: Hanswalde, der Geburtsort von [väterlicherseits:] Großmutter Hedwig Groß, Großonkel Otto Groß, Urgroßvater August Groß, Urgroßmutter Amalie Hahnke, Ururgroßvater Gottlieb Groß, Ururgroßvater Gottlieb Hahnke, [sowie mütterlicherseits:] Urgroßmutter Wilhelmine Gerlach und Ururgroßvater August Gerlach
Ich selbst habe die pelikanesischen Weihnachtsfeierlichkeiten im Vorfeld nicht besonders geliebt, weil ich auf dem Klavier immer die Liederbegleitung für den Abend einüben mußte, doch sind mir viele starke Heiligabendbilder in Erinnerung geblieben. Ich wußte zwar nur sehr wenig über Onkel Otto und Tante Auguste (wie ich Großonkel und Großtante zu nennen pflegte), doch wenn sie am 24. Dezember bei uns nach dem Vortragen der biblischen Weihnachtsgeschichte und dem gemeinsamen Singen von Liedern und dem Aufsagen von Gedichten und dem Überreichen und Auspacken der Geschenke in dem nach Tannennadeln und Räucherkerzen duftenden Zimmer mit dem liebevoll geschmückten Weihnachtsbaum etwas geistesabwesend dasaßen, kamen sie mir manchmal schon sehr einsam vor. Und heute bin ich sicher, daß sie in solchen Momenten auch ihrer alten Heimat gedachten und sich an ihre früheren Leben erinnerten, bevor der zweite große Krieg, den sie miterleben mußten, sie zu Vertriebenen und Heimatlosen gemacht hatte. So, wie es auch heute – 70 Jahre später – immer noch unzählige Männer, Frauen und Kinder auf dieser Welt erdulden müssen.Ich wünsche all diesen Menschen eine friedliche Weihnachtszeit, egal, welche Sprache sie sprechen, in welchem Land sie sich aufhalten oder welcher Religion sie sich nahe fühlen.Duisburg, 4. Advent 2015