80. Todestag von Thomas Wolfe

15. September 2018

Heute vor 80 Jahren ist der amerikanische Schriftsteller Thomas Wolfe (* 3. 10. 1900) gestorben. Er wurde nur 37 Jahre alt.

Foto: Carl Van Vechten [Public domain], via Wikimedia Commons
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Zu Lebzeiten sind von Wolfe lediglich zwei (allerdings recht umfangreiche) Romane, ein Band mit Erzählungen und ein autobiographischer Werkstattbericht erschienen. Nach seinem Tod hat sein Lektor aus den hinterlassenen Manuskriptbergen noch zwei weitere Romane und einen weiteren Kurzgeschichtenband zusammengestellt und herausgebracht.

xxxxxZu Lebzeiten veröffentlichte Romane:
Schau heimwärts, Engel! (1929)
Von Zeit und Strom / Von Zeit und Fluss (1935)
xxxxxPostum veröffentlichte Romane:
Geweb und Fels (1939)
Es führt kein Weg zurück (1940)

Man kann allerdings davon ausgehen, daß die letzten beiden Bücher anders ausgesehen haben würden, wenn Wolfe sich länger damit hätte beschäftigen können, da er wie ein Besessener geschrieben und in der Regel etwas planlos an einem gewaltigen Überwerk, das an allen Fronten ständig erweitert und umgeschrieben wurde, gearbeitet hat. Wolfes zweiter Roman ist deshalb vor allem seinem damaligen Lektor Maxwell Perkins [der auch F. Scott Fitzgerald und Ernest Hemingway “entdeckt” hatte] zu verdanken, der aus den in den vergangenen vier Jahren fabrizierten Manuskriptbergen schließlich etwas auswählte und zum neuen Buch erklärte. Dieses neue Buch hatte in dem Moment allerding noch den doppelten Umfang von “Krieg und Frieden” und wurde anschließend in gut einjähriger Arbeit um ca. 75 Prozent gekürzt (was Wolfe ohne Perkins’ Insistieren nie im Leben gelungen wäre) und um noch fehlende Übergangspassagen ergänzt. Und trotz dieser rigorosen Kürzungen war es bei seinem Erscheinen 1935 der bis dahin umfangreichste amerikanische Roman überhaupt.

Wolfe ist auf der einen Seite ein literarisches Genie gewesen, das auf der anderen aber überhaupt kein Gespür für das rechte Maß besessen hat, weil er einfach ZUVIEL wollte, nämlich ALLES beschreiben, was unter anderem auch bedeutete, daß er von neu hinzukommenden Buch-Charakteren am liebsten auch noch deren komplette Lebensgeschichte bis zum Eintritt in die Erzählung präsentiert hätte (und es zum Leidwesen seines Lektors auch manchmal getan hat). Dieses ALLES WOLLEN wird in “Von Zeit und Fluss” einmal folgendermaßen beschrieben:

„Dieser Furor, der ihn antrieb, so viele Bücher zu lesen, hatte nichts mit Gelehrsamkeit, nichts mit akademischen Ehren, nichts mit herkömmlichem Bildungseifer zu tun. Er war in keiner Weise ein Gelehrter und wollte auch keiner sein. Er wollte einfach über alles auf Erden Bescheid wissen; er wollte die Erde verschlingen, und die Erkenntnis, dass ihm dies nicht gelingen konnte, trieb ihn in den Wahnsinn. Und so verhielt es sich mit allem, was er tat. Mitten in einem furiosen Leseabenteuer in der imposanten Bibliothek durchbohrte ihn der Gedanke an die Straßen draußen und an die große Stadt ringsum wie ein Schwert. Dann schien es ihm, als wäre jede mit Büchern verbrachte Stunde vertan – als ereignete sich in den Straßen eben in diesem Augenblick etwas ungeheuer Kostbares, Unwiederbringliches, das ihm, könnte er es nur rechtzeitig sehen, helfen würde zu verstehen, was in ihm war – den Strom, den Quell, den Ursprung, aus dem alle Menschen und Worte und Taten und jedes Ansinnen auf dieser Erde hervorgehen.
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Und er stürmte […] hinaus, um […] dann Stunden damit zuzubringen, durch Hunderte Straßen zu preschen und einer Million Menschen in die Gesichter zu schauen, im Bestreben, sich augenblicklich ein schlüssiges Bild von allem, was sie taten und sagten und waren, zu machen, von ihrer Million Schicksale und von der großen Stadt und der ewigen Erde und den unermesslichen und einsamen Himmeln, die sich über ihnen wölbten. Und er durchforschte die furiosen Straßen, bis Mark und Bein und Blut genug davon hatten – bis jeder einzelne Nerv seines Lebens und Denkens angespannt, zittrig und erschöpft war und ihm unter der Last von Not und Verzweiflung das Herz sank.“
xxxxx[Deutsch von Irma Wehrli]

Und diesen schier unstillbaren Hunger hat auch der amerikanische Spielfilm “Genius – Die Tausend Seiten einer Freundschaft” aus dem Jahr 2016 darzustellen versucht.
xxxxxAls ich zum ersten Mal davon hörte, daß demnächst ein Film über Thomas Wolfe in die Kinos kommen würde, bin ich begeistert gewesen. Als ich dann aber las, wer mitspielen würde, kam mir auf der Stelle der Begriff “Fehlbesetzung” in den Sinn. Colin Firth als Maxwell Perkins? Prima! Jude Law als Thomas Wolfe? Furchtbar! Nicole Kidman als Wolfes Geliebte Aline Bernstein? Katastrophe!
xxxxxErst mal zum Alter: Jude Law ist, als der Film gedreht wurde, 41 Jahre alt gewesen. Nicole Kidman war 5½ Jahre älter.
xxxxxAline Bernstein (Kidmans Rolle) ist allerdings überhaupt keine schöne, schlanke, attraktive Frau wie Kidman gewesen und war auch nicht nur 5½, sondern ganze 19¾ Jahre älter als Wolfe, so daß sie in der Öffentlichkeit eher den Eindruck einer mütterlichen Freundin als den einer heißen Geliebten gemacht haben dürfte. Eine (wie sie der Film annehmen läßt) länger andauernde Liebesbeziehung zu einer etwa gleichaltrigen Frau hat es in Wolfes Leben nie gegeben. Und um dem Ganzen noch etwas mehr Drama zu verleihen, ist Aline Bernstein auch noch zu einer gefährlich reagierenden Frau gemacht worden, die in einer Filmszene tatsächlich in Perkins Büro kommt und ihn zu erschießen droht, weil er (im Gegensatz zu ihr) so viel Zeit mit Wolfe verbringen durfte. Was für’n Quatsch, zumal die Beziehung zwischen Wolfe und Bernstein im wirklichen Leben zu diesem Zeitpunkt schon seit mehreren Jahren vorüber war.

Nun zum Hauptdarsteller: Jude Law ist schlank und 1,82 Meter groß. Wolfe war dagegen ein recht massiger Bär von einem Mann mit einer Körpergröße von 1,98 Meter. Der deutsche Verleger Heinrich Maria Ledig-Rowohlt schrieb in “Thomas Wolfe in Berlin” über ihn: “Dieses Bild ist mir unvergeßlich geblieben: das imponierende, schwarz gelockte Haupt, das alle Gäste überragte; die linkische, beinahe kokett-abwehrende Bescheidenheit des Riesen, der bald den Mittelpunkt der Gesellschaft bildete und immer wieder errötend bemüht war, jedem Freundliches zu sagen und alle Komplimente abzuwehren.”
xxxxxDas paßt nun so gar nicht zu der Art, wie der viel kleinere Jude Law Wolfe darstellt: als hochgradig narzistischen und rücksichtslosen Charakter, der nicht mal genügend Anstand besitzt, um bei seiner ersten Begegnung mit seinem künftigen Lektor respektvoll und höflich aufzutreten. Wolfe hatte zwar auch was von einem Verrückten, doch wie er im Film porträtiert wird kommt mir eher wie eine schlechte Parodie vor. In der Darstellung von Law und Kidman kann ich die mir seit vielen Jahrzehnten wohlbekannten Personen [ich habe auch mehrere nie ins Deutsche übersetzte Wolfe-Biographien und Briefwechsel gelesen] deshalb leider nicht wiedererkennen. Wenn man anstelle von Law wenigstens einen Schauspieler genommen hätte, der Wolfes Statur entsprochen hätte, so daß Laws nervige Körpersprache mit dem wilden Herumgefuchtel seiner Arme allein durch die Massigkeit der Figur schon etwas anders wirken würde; und anstelle von Kidman eine Schauspielerin, die der echten Aline Bernstein in bezug auf Alter, Körpergröße [sie wird als kleine Frau beschrieben, die neben dem riesenhaften Wolfe noch kleiner wirkte / während Kidman fast so groß wie Law ist] und Aussehen [nicht wirklich attraktiv] mehr entsprochen hätte … aber nein, da mußten wieder mal ein paar schlanke und weder körperlich noch altersmäßig adäquate Hollywood-Schönlinge her.

Diesen Film (der er es auch an anderen Stellen mit der Wahrheit nicht immer ganz genau nimmt) kann ich also leider überhaupt nicht empfehlen … bis auf die wunderbaren Szenen, in denen Perkins zum ersten Mal das Manuskript von “Schau heimwärts, Engel!” liest, wobei die aus dem Off erklingenden Worte eine Prosa in den Filmraum stellen, die wirklich Eindruck macht.

Von Wolfes Büchern kann ich nach inzwischen rund 40jähriger Beschäftigung mit seinen Texten allerdings nur noch eines uneingeschränkt empfehlen [während ich in den 70er und 80er Jahren auch die anderen mit Begeisterung verschlungen habe], doch dieses eine, sein erster Roman “Schau heimwärts, Engel!”, vermag mich auch heute noch so zu berühren und zu verzaubern wie damals, als ich mich Mitte der 1970er Jahre zum ersten Mal berauscht in seiner kraftvollen Sprache verloren habe. Und wenn von euch jemand dieses Buch mal lesen (oder wiederlesen) möchte, empfehle ich die 2009 erschienene Neuübersetzung von Irma Wehrli im Manesse Verlag, die 2011 auch als btb-Taschenbuch herausgekommen ist.