Erinnerungen an Willi Kissmer

Heiligabend 2018

Am 27. Juli 2018 ist der Duisburger Künstler Willi Kissmer gestorben. In den 1970er Jahren war er vor allem als Gitarrist der Folkrockband Bröselmaschine in Erscheinung getreten, bevor er sich in den ’80er Jahren verstärkt der Malerei zuwandte, was neben zahlreichen Einzelausstellungen in Deutschland auch zu solchen in anderen europäischen Ländern und den USA führte.

Als ich Willi 1971 zum ersten Mal auf der Bühne erlebt habe, ist er sofort zu meinem Duisburger Lieblingsgitarristen geworden, den ich wegen seiner so andersartigen Leadgitarrenspielweise [er war mehr von Folkrock-Gitarristen wie Richard Thompson und Jerry Donahue als von Chuck Berry oder Jimi Hendrix beeinflußt] sehr bewundert habe und am liebsten auch mal persönlich kennenlernen wollte. Und diese Gelegenheit ergab sich im Sommer 1973, als Willi 21 und ich 19 Jahre alt war.
…..Ich saß mit ein paar Typen im Kantpark herum, als Peter Bursch des Weges kam und fragte, ob nicht jemand von uns ihm demnächst beim Tapezieren seiner neuen Wohnung helfen wollte. Ich fragte zurück, wer denn sonst noch dabei sei, und als die Antwort “Willi Kissmer” lautete, sagte ich sofort zu. Geld gab’s keins, aber Willi kennenzulernen würde Belohnung genug für mich sein.
…..Und als es dann losging, bekamen Willi und ich (die beide keine Ahnung von der Sache hatten) den Auftrag, das Schlafzimmer zu tapezieren. Am schwierigsten war die Zimmerdecke. Und weil dabei alles mit über dem Kopf hochgereckten Armen zu geschehen hatte, machte uns das ziemlich zu schaffen, und so beschlossen wir, daß es viel leichter sei, die Tapetenstreifen sich etwas überlappen zu lassen, anstatt zu versuchen, alles nahtlos aneinanderzufügen. Das klappte dann auch viel besser, hatte nur optisch einen gewissen Haken, so daß Peter beim Begutachten unserer geleisteten Arbeit nicht gerade in Freudengeheul ausgebrochen ist – doch was konnte man von ungelernten Für-lau-Arbeitskräften auch schon groß erwarten? Bei Peters nächstem Umzug bin ich dann nicht mehr um Hilfe gebeten worden (gut so!), aber ich hatte den Kontakt zu Willi Kissmer ja ohnehin schon geknüpft, der bis zu seinem Tod (rund 45 Jahre später) auch erhalten geblieben ist.


Musik (1)

In meiner Zeit als live auftretender Gitarrist und Sänger (1972-2019) habe ich insgesamt mit mehr als 200 verschiedenen Musikern auf der Bühne gestanden, und Willi hat zu den allerersten gehört. Und mit insgesamt 35 gemeinsamen Auftritten (der letzte fand 2016 statt) ist er auch heute noch in den Top 10 der Pelikan-Musikerliste vertreten.

Einige Monate nach unseren Tapezierübungen sollte am 24. November 1973 mein zweiter öffentlicher Auftritt bei einem kleinen Festival in der Aula des Clauberg-Gymnasiums in Duisburg-Hamborn über die Bühne gehen. Die Top Acts des Abends waren die Duisburger Rockbands “Dhun”, “Atropos” und “Ausz”, während ich als Solist zwischendurch mal einen kleinen Set abliefern sollte. Ich hatte ein halbstündiges Programm mit eigenen Liedern zur akustischen Gitarre vorbereitet, doch beim Soundcheck erwies sich die Übertragungs-Anlage für solch eine Akustik-Nummer doch etwas überfordert und produzierte so viel Gitarren-Rückkopplung [außer wenn ich ganz hinten auf der Bühne saß, wo dann aber das Gesangsmikrophonkabel nicht mehr hinreichte], daß ich kurzerhand auf E-Gitarre umstellen mußte. Allerdings konnte ich mein geplantes Programm nun nicht mehr aufführen [da sich Akustik-Gitarren-Arrangements (wegen des doch ganz anders intensiven Klangs) nicht einfach auf elektrische Gitarre übertragen lassen], und so bat ich Willi, der eigentlich nur als Zuhörer da war, um Hilfe. Und während die erste Gruppe den Saal beschallte, fuhr er noch mal nach Hause, um seinen AC-30-Verstärker zu holen [seine E-Gitarre hatte er für alle Fälle sowieso immer im Auto], und dann spielten wir als Duo einfach zwei pelikanesische Bluessongs und machten danach noch eine Jam-Session mit Kalle Burandt (Baß) und Lucky Ruhnau (Schlagzeug) von Ausz. Und das war dann mein erster Bühnen-Auftritt mit Willi Kissmer.


Anderes (1)

In den folgenden drei Jahren hat es zwar keine weiteren gemeinsamen Gigs mehr gegeben, doch sind Willi und ich uns in dieser Zeit häufig in der Stadt (= Duisburg Mitte) über den Weg gelaufen (im 1974 eröffneten Eschhaus zum Beispiel), und ich habe ihn auch mehrfach zu Hause besucht.

1975 gab es für mich zwei mit Willi zusammenhängende besondere Ereignisse. Zum einen hat er sich (was mich damals wirklich mit Stolz erfüllte) für die Studioaufnahmen zur zweiten Bröselmaschine-LP meine elektrische “Gibson Les Paul”-Gitarre ausgeliehen (um neben seiner “Fender Telecaster” auch noch einen anderen Gitarrensound zu haben), und zum anderen habe ich in diesem Jahr einen echten Kissmer erworben (für 150 DM), der auch heute noch die Wand meines Arbeitszimmers schmückt.

 

 

Auf dieser Lithographie ist Willis damalige Freundin Imke zu sehen, in deren beste Freundin Beate [die später Willis Model und noch später seine Ehefrau werden sollte] ich 1976/77 recht hilflos verliebt gewesen bin – hilflos, weil ich in jenen Tagen viel zu viele Probleme (mit mir selbst) hatte, als daß ich eine ernsthafte Liebesbeziehung hätte leben können. Willi, Imke und Beate [die von meinen besonderen Gefühlen für sie übrigens gewußt hatte] haben mich damals auch mal eingeladen, ein paar Tage mit ihnen zusammen auf Texel zu verbringen, doch hatte ich einfach viel zuviel Angst vor möglichen Konflikten und Entscheidungen und so, weshalb ich das Angebot dann ganz kühl aus rationalen Überlegungen ausgeschlagen habe, nur um auf der anderen Seite in tiefste emotionale Hoffnungslosigkeit zu versinken … was immerhin aber noch zu drei kleinen Liedern für/über Beate geführt hat, wie etwa “Words for the Sun” (von der 2009 herausgekommenen CD “The Wizard of OTZ“) mit den Textzeilen: “and deep in my heart I love you / but deep in my mind I don’t trust my heart at all”.

[Und hier noch ein intimer kleiner Einblick in die “Qualität” (heute könnte ich darüber lachen, wenn es nicht so traurig wäre) meiner damaligen Verkorkstheit:
…..Beate hatte mich
eines abends mal besucht, schließlich beschlossen, über Nacht zu bleiben und war gegen Mitternacht nackt in mein Bett geschlüpft. Ich tat so, als wenn ich noch etwas äußerst Wichtiges an einer meiner Geschichten zu bearbeiten hätte, und irgendwann ist Beate dann eingeschlafen. Und als sie am Morgen wach wurde, habe ich immer noch am Schreibtisch gesessen.]


Musik (2)

Anfang Januar 1977 spielte ich (bereits zum dritten Mal) eine ganze Woche lang im Folkklub “Bob’s Stage” in Hemmerden (einem Ortsteil von Grevenbroich), wo auch Willi, Imke und Beate überraschend mal auftauchten. An dem Abend haben Willi und ich zwar noch nicht wieder zusammen musiziert, doch ebendieses für die baldige Zukunft beschlossen. Und zwei Wochen später war es dann so weit, daß wir bei einem Pelikan-Gig im Clauberg-Gymnasium – ebendort, wo wir drei Jahre und zwei Monate zuvor als Duo debütiert hatten – unsere gemeinsame Bühnenarbeit fortsetzten, was in den kommenden 22 Monaten noch zu sechs weiteren Auftritten in dieser Besetzung führte.

Ebenfalls 1977 ist es bei mir dann auch mit Bands losgegangen: Im Mai starteten zuerst die “Sheffield Shakers”
…..[Kalle Burandt (Baß), Congo Johnson (Gitarre), Michael “Schnuff” Strohm (Saxophon), Pelikan (Gitarre & Gesang],
…..aus denen sich im August “Lucky Mac, Happy Mac und die Anderen” entwickelten
…..[ohne Kalle, aber weiterhin mit Congo und Pelikan und Schnuff (dann am Baß), plus den Neuzugängen Lucky Ruhnau (Schlagzeug) und Georg Mahr (Keyboards)],
…..die im neuen Jahr dann (am 1. Januar 1978 um 0:01 Uhr beim Silvester-Gig im Eschhaus) in “Duisburg City Rock ‘n’ Roll All Stars” umbenannt wurden. Und Willi ist ein All-Stars-Fan der allerersten Stunde gewesen
…..[er mochte meine (im Gegensatz zu meiner inneren Starre) inzwischen deutlich selbstbewußtere Bühnenpräsenz (auch wenn ich, wie er mal sagte, bewegungs- und gesangstechnisch nicht gerade ein zweiter Mick Jagger wäre) und liebte Schnuffs Baßspiel]
…..und hat auch beim ersten offiziellen Lucky-Mac-Konzert im November 1977 schon als Special-Guest-Mac bei einigen Stücken mitgewirkt.
…..8 Monate und 17 All-Stars-Auftritte später hatte Congo dann die Nase voll gehabt von dem Dauerstreß mit zwei parallel laufenden Bands, so daß er nach unserer ersten Marburg-Tournee [die eigentlich nach Norwegen hatte führen sollen (was aber eine ganz andere Geschichte für einen ganz anderen Beitrag ist)] bei den All Stars ausstieg, um fortan wieder das doch etwas ruhigere Fahrwasser seiner Leib-und-Magen-Combo “Menthol” zu genießen.
…..Für den somit frei gewordenen Posten des Leadgitarristen hatte unsere Band nur einen einzigen Wunschkandidaten: Willi Kissmer! Der zu unserem größten Bedauern aber ablehnte, weil er gerade beschlossen hatte, seine Zukunft in der Malerei zu sehen und keine Zeit mehr für regelmäßige Bandproben und Konzerte erübrigen zu wollen. Bis zum Jahresende hat er uns (weil wir immer noch keinen neuen Gitarristen gefunden, bzw. den ersten Nachfolger schon wieder gefeuert hatten) dann freundlicherweise aber doch noch zweimal ausgeholfen: beim 2. OTZ Festival (im Oktober ’78) im Eschhaus sowie bei unserem “legendären” Gig im Knast in Duisburg-Hamborn zwei Tage vor Silvester.
…..[Wir hatten dort eigentlich für lau gespielt, doch ist die Anstaltsleitung auf Grund unseres das Publikum wahrlich begeistern könnenden Auftritts (bei dem so viel euphorische Stimmung und Energie erzeugt wurde, daß ich zwischenzeitlich tatsächlich in Sorge war, daß die Knackis gleich die Wachen überwältigen und den Laden auseinandernehmen würden: Riot in Cell Block #9 oder so) wohl der Meinung gewesen, daß wir viel zu gut waren, um wie eine kleine Amateurband ohne Gage davonkommen zu dürfen, so daß wir im Nachhinein noch mit vollkommen unerwarteten 300 DM entlohnt worden sind. Qualität zahlt sich halt doch manchmal aus!]

Nach einer knapp zweijährigen und wirklich tollen Zeit mit den Duisburg City Rock ‘n’ Roll All Stars wollte ich Ende 1979 dann aber doch mal eine richtige Pelikan-Band mit nur eigenen Liedern auf die Beine stellen, und als ich das Willi gegenüber mal erwähnte, sagte er, daß er da gerne mitmachen würde [offenbar hatte er seine Meinung in bezug auf die Vergabe seiner Künstler-Zeit inzwischen geändert], und das ließ ich mir natürlich nicht zweimal sagen. Und so haben wir 1980 dann einige Monate lang in der Besetzung Willi Kissmer (Gitarre), Dieter Stein (Baß), Mike Gosen (Schlagzeug) und Pelikan (Gitarre & Gesang) geprobt, bis Willi mir eines Tages eröffnete, daß er im kommenden Jahr nach Hamburg ziehen würde. Und weil es mir nicht sinnvoll erschien, bis dahin noch weiter mit ihm zu proben, sah ich mich lieber gleich nach einem neuen Gitarristen um, so daß das Bandkapitel mit Willi und Pelikan nach weniger als einem halben Jahr dann leider schon wieder ihr Ende fand.
…..[Was ich damals nicht ahnen konnte: daß Willis Hamburg-Pläne nie in die Tat umgesetzt würden und er (bis auf einen späteren Sommer-Zweitwohnsitz in Frankreich) nie aus Duisburg wegziehen sollte. Tja…]

Die Pelikan-Band (zu Willis Zeiten noch “Hot Rod and the Rubber Rats” geheißen) feierte ihre Live-Premiere wegen diverser Umbesetzungen erst rund 20 Monate nach Willis Abgang unter dem Namen “Al & the Hollywood Rats”, featuring Mike Gosen (Schlagzeug), Schnuff (Baß), Arenor Meyer [heute Arenor Anuku] (Leadgitarre) und Pelikan (Gitarre & Gesang). Arenor ist ein Jahr später dann noch durch Manni “Slowfoot” Roßmann ersetzt worden.


Worte
und Wohnungen

Obwohl Willi nie mit den Hollywood Rats zusammen auf der Bühne gestanden hat, ist er dennoch auf eine spezielle Art bei jedem Auftritt dabeigewesen, weil ich es mir im Text einer meiner schrägsten Nummern [dem Titelsong der (2008 erschienenen) Hollywood-Rats-CD Welcome to Chilligoo] einfach nicht hatte verkneifen können, einen weiblichen Fan mal “Kiss me, Kissmer!” sagen zu lassen. Und eine Strophe später noch: “Ooh, kiss me again, Kissmer!”
…..Aber auch vorher ist Willi schon mal in anderen Pelikan-Songs aufgetaucht. So z. B. 1978 in “Singing for you” [das auf der Pelikan-CD “The Wizard of OTZ” (von 2009) zu hören ist], und ein Jahr davor bereits in “Colours”: “So if Joni comes along with a brand new song, call three times a three and a seven six five and tell Willie who did arrive”. (Willi ist damals ein großer Joni-Mitchell-Fan gewesen, und seine Telefonnummer war die 333 765.)
…..Und in meinem 1980 geschriebenen Song “The Story Of The Duisburg City Rock ‘n’ Roll All Stars” hatte jeder unserer insgesamt vier verschiedenen Leadgitarristen eine eigene Strophe bekommen, so natürlich auch Willi:

Our third guitarist was my old friend Willie
he played as good as we thought he would
and we wanted him to stay but had no cash to pay
so we promised him a lot of girls for every day
but our next performance was in the city-jail
and Willie said: not with me, you’re telling me a tale

So bye-bye, Willie, bye-bye
bye-bye, Willie, bye-bye
it’s alright, Willie
get a brush and paint your pictures of Lily

Willi Kissmer als “Galaktischer Gigant”, 1991 (Foto: Harald Binder)

Außer selbstgeschriebenen Liedern hatte es (ab 1974) aber auch noch ein paar Pelikanesische Prosaveröffentlichungen gegeben, in denen auch Willi hin und wieder mal eine Rolle spielte. Zuerst in den 1974 bis ’76 erschienenen drei Ausgaben des Pelikan/Scharmachschen Lexikons [“Kissmer, Willi – Gitarrenkünstler, AC-30-Fan & mehrfacher Lieblingsstar”], und als nächstes im Klappentext (auf Seite -2 / sprich: minus zwei) des 1978 veröffentlichten Pelikan-Buches “Was ich noch wagen sollte oder Was ich noch sagen wollte”. Und da sich dieser “Klappentext” bei genauerem Hinsehen auf ein ganz anderes (fiktives) Werk eines ganz anderen (fiktiven) Autors bezieht, könnte der erste Lesereindruck schon ein etwas verwirrter sein, auch angesichts der schließlich noch aufgeführten Besetzungsliste aus dem angeblichen Drehbuch zu einem Script mit dem Titel “Flußpiraten in Paris”:
Pete Kissmer als Kulisse,
Willi Bursch als Frank Zappa,
Liz Taylor als Imke,
Eddie Constantine als Willi Kissmer,
Tisch als Stuhl,
Beate Uhse als 10 Girls
& M. Gosen als Gugelhupf.
…..Mehr als die Hälfte dieser Angaben stammt übrigens von Willi, als wir bei ihm zu Hause mal recht ausgelassen herumgealbert hatten. [Und obwohl ich damals nicht wußte, wer oder was M. Gosen war, habe ich die Gosen-als-Gugelhupf-Formulierung einfach in meinem Buch abgedruckt. Und zwei Jahre später ist ebendieser Mike Gosen dann (auf Willis Vorschlag hin) Schlagzeuger in meiner Band geworden.
…..Ob Mike (a) dieses Buch mit der Erwähnung seiner Person aber jemals zu Gesicht bekommen hat oder (b) tatsächlich vielleicht eine Vorliebe für Gugelhupf besaß, habe ich nie in Erfahrung gebracht.]
…..Und auch der Titel von “Flußpiraten in Paris” hatte mit Willi zu tun. Als wir uns mal über Lieblingsbücher aus unserer Jugendzeit unterhielten, nannte er nämlich das mir (bis heute) vollkommen unbekannte “Die Flußpiraten des Mississippi” von Friedrich Gerstäcker. / Und einige Jahre später hat er auch “Gullivers Reisen” noch als ein frühes Lieblingsbuch bezeichnet.

In meinem nächsten Prosawerk (“Herzlichen Glückwunsch” von 1982) ist in den fast vollständig erlogenen Angaben zur Vita des Autors [weder Geburtsort noch Geburtsjahr oder Informationen über die Eltern sind korrekt gewesen] auch Pelikans Eheschließung mit einer gewissen Elisabeth Kissmer aufgeführt worden, bei der ich mir immer eine (in Wahrheit nicht existierende) Schwester von Willi vorgestellt habe.

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Ich habe Willi immer sehr gern besucht, weil ich auch die Einrichtungen seiner Wohnungen [Neue Marktstraße, Liliencronstraße, Felsenstraße, Heckenstraße und Lenzmannstraße] sehr gemocht habe, da sie ein auf mich sehr anziehend wirkendes künstlerisches Ambiente ausstrahlten und von einer selbstverwirklichenden “Freiheit” kündeten, die in meinen eigenen vier Wänden (der ich aus finanziellen und sonstigen Bequemlichkeitsgründen damals immer noch bei meinen Eltern wohnte) doch noch etwas vermißt wurde.
…..Am besten in Erinnerung habe ich aber Willis 1989 erworbenes neues Eigenheim in Gestalt des 1854-56 errichteten und mit 6 oder 7 Etagen [deren oberste – mit einer großen Glasdecke ausgestattet – er dann als Atelier nutzte] mehr als 20 Meter hohen alten Hebeturms an den Rheinanlagen in Duisburg Homberg. In den 1990er Jahren bin ich dort mindestens einmal jährlich zum Musikhören, Labern und Schachspielen gewesen, und irgendwann stand sogar mal die Frage an, ob ich nicht als Mieter dort einziehen sollte, doch haben mich vor allem meine unsichere finanzielle Situation und die für mich als nur Fahrradfahrer nicht gerade optimale Lage [meine Volkshochschulgitarrenkurse fanden damals in Duisburg Mitte und in Buchholz statt] dann doch davon abgehalten.
…..Im neuen Jahrtausend habe ich es leider nur noch alle paar Jahre zu Willis Turm geschafft (zuletzt 2017), wohl auch, weil er in den wärmeren Jahreszeiten meist in Frankreich weilte (wo er mittlerweile seinen Zweitwohnsitz in Cortevaix – einem kleinen 250-Seelen-Dorf in der Bourgogne – hatte, mit einem ebenfalls gut ausgestatteten Atelier) und ich auf die rund 13 Kilometer lange Fahrradtour nach Homberg in den “garstigeren” Monaten einfach nicht so viel Lust hatte. Willi und Beate haben mich zwar auch mehrfach in ihre Sommerresidenz nach Frankreich eingeladen, doch haben mich meine mit den Jahren immer ausgeprägter gewordene Reiseunlust und meine hasenfüßigen “Was mache ich, wenn ich mich dort nicht wohl fühlen sollte?”-Gedanken stets davon abgehalten, dieser Einladung Folge zu leisten.


Willi als Freund

Willi und ich haben in den vergangenen 45 Jahren zwar auch schon mal etwas tiefer schürfende Gespräche geführt, doch haben wir einander nie wirklich sehr gut gekannt. Und das hat bestimmt an mir gelegen, weil ich früher einfach ungeheuer verschlossen gewesen bin und nie den Mut aufgebracht hatte, jemandem (nicht einmal meinem besten Freund) von meinen größten Ängsten und Sorgen zu berichten. Eigentlich bin ich ja nicht mal in der Lage gewesen, mir selbst gegenüber meine Probleme genauer zu benennen, weil ich ab frühester Jugend schon gelernt hatte, schwierige und mir unangenehme Sachen lieber zu verdrängen, als – sie mir schmerzhaft vor Augen haltend – zu versuchen, ihnen auf den Grund zu gehen und daran zu arbeiten. Und Willi hatte in all den Jahren natürlich auch mitbekommen, daß ich offenbar ein paar seelische Mühlsteinchen mit mir herumschleppte, doch weil ich niemals wirklich Anstalten gemacht hatte, mich ihm diesbezüglich auch mal näher anzuvertrauen, hat er mich auch nie zu irgend etwas in dieser Richtung gedrängt.
…..Willi hatte (im Gegensatz zu meinem besten Freund) aber einen großen Vorteil: er war eben nicht mein bester Freund und versuchte deshalb auch nicht, mich aus höflich/freundschaftlicher Nachsicht oder so meist zu schonen. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie ich ihm gegenüber mal erwähnte, daß ich ja gar nicht wirklich viel Geld zum Leben bräuchte und auch in vielen Jahren noch mit ein paar regelmäßigen Auftritten schon irgendwie über die Runden kommen könne, als er mir deutlich widersprach und mir vorrechnete, daß ich, um mal wirklich auf eigenen Füßen zu stehen, zuerst mal Geld für Miete, Strom, Wasser, Krankenversicherung und ähnliches abzudrücken hätte, bevor ich mir auch nur ein einziges Brötchen leisten können würde. Solche Worte habe ich damals überhaupt nicht gern hören, und sie haben mir an jenem Tag bestimmt auch nicht besonders gut getan, da sie mir wieder mal unerwünscht vor Augen geführt haben, wie wenig ich in meiner realitätsfernen Naivität doch fürs wahre Erwachsenenleben gerüstet war. Daß Willi es mit seiner Aussage nur gut gemeint hat und mich nicht angreifen oder verletzen wollte, ist mir aber vollkommen bewußt gewesen.

Zu Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre ging es mir – trotz allgemeiner musikalischer Anerkennung – häufig nicht besonders gut, und Willi und Birgitta [schönen Gruß nach Wiesbaden], meine zu jener Zeit besten Nicht-besten-Freunde, haben mir damals (unabhängig voneinander) mehrfach kundgetan, daß ich an meinem Leben auch durchaus mal was ändern dürfte, da ich mich nicht für alle Zeiten bei meinen Eltern vergraben und auf ewig vor dem Erwachsenwerden verstecken könne.
…..Tagebucheintrag vom Februar 1982: “Und dann hat Willi mich mal wieder mit vollkommen überzeugenden Argumenten zum Thema Leben, Wagen, Riskieren und Sich-Verändern ziemlich fertiggemacht.”

[Knapp 20 Jahre später habe ich Willi mal wegen eines Problems mit einem Musikerkollegen um Rat gefragt und eine ganz unerwartete, salomonisch anmutende Antwort bekommen, die ich dann auch beherzigt habe. / Auch wenn ich die mir damals zugefügte “Ungerechtigkeit” bis heute noch nicht habe vergessen können.]

Ich habe Willi immer für einen sehr integren und ehrlichen Menschen gehalten, doch zumindest einmal bin ich der Meinung gewesen, daß er etwas zu ehrlich gewesen ist. Und zwar, als ich ihm zum Geburtstag mal meinen damaligen Lieblingsakkord “geschenkt” habe [ein im 5. Bund zu greifendes verträumt-romantisches Amadd9] und er nur kurz hinguckte und trocken erwiderte: “Kenn ich schon.” Da wäre mir eine kleine Freundschaftslüge dann doch wirklich lieber gewesen.


Anderes (2)

Zum gut bestückten pelikanesischen Ängste-Arsenal hat auch immer schon die Sorge gehört, bei (vor allem größeren) Neuanschaffungen nicht das Richtige zu wählen und am Ende wie ein Blödmann dazustehen, der von nichts eine Ahnung hat. Weil ich hin und wieder aber doch mal eine neue Gitarre oder einen neuen Verstärker brauchte, brachte mich das jedesmal in gewisse Nöte, da solch ein Kauf für mich auf Grund meiner finanziell meist immer recht klammen Lage bedeutete, daß ich auf keinen Fall mein Geld zum Fenster rausschmeißen durfte, indem ich etwas “Falsches” erwarb. Und je höher die Kaufsumme war, desto größer war meine Angst davor, eben nicht das “Richtige” zu wählen. Und weil ich Willi so einschätzte, daß er mit derartigen “Problemen” nichts am Hut hatte und einfach wußte, was gut war, habe ich mir in den 80ern einmal den gleichen Gitarren-Amp und in den 90ern auch noch die gleiche Gitarre wie er zugelegt. 1995 war Willi gerade stolzer Besitzer einer brandneuen akustischen Westerngitarre geworden, deren Klang ich wirklich großartig fand, und weil ich nach 25jährigem Nylonsaitengitarrengeklampfe beschloß, mich noch einmal einer neuen Herausforderung (mit Stahlseiten) zu stellen, besorgte ich mir dasselbe Modell wie Willi und dachte, damit nicht falschliegen zu können. Doch stellte sich im direkten Vergleich dann leider heraus, daß beide Gitarren doch wirklich unterschiedlich klangen und mein Instrument längst nicht so warm und voll im Ton war wie Willis Exemplar. Und um mich zu trösten, sagte er dann, daß ich dann seine Gitarre bekommen könne, wenn er mal nicht mehr wäre. [Aber selbst, wenn das nach seinem Tod verwirklicht worden wäre, würde es mich wohl nicht besonders fröhlich gestimmt haben.]

Daß sich meine finanzielle Situation im Alter von 30 Jahren schließlich doch noch etwas positiver zu gestalten begonnen hat, habe ich in gewisser Weise übrigens auch Willi zu verdanken, der sich Ende der 1970er Jahre ja dazu entschlossen hatte, das Musikmachen hintanzustellen und nur noch von seiner Malerei zu leben zu versuchen. Was dann auch so gut funktionierte, daß er Ende 1983 seine vier Volkshochschulgitarrenkurse aufgeben konnte, die bis dahin ein willkommenes Zubrot gewesen waren, mittlerweile aber doch nur als zeitraubende und lästige [er gestand mir später mal, daß ihn das Unterrichten nie befriedigt habe] Tätigkeit empfunden wurden. Und ich bin dann halt der Glückliche gewesen, der diese Kurse (ab Januar 1984) hat übernehmen dürfen. [Und im Laufe der Jahre habe ich das Programm dann von anfänglich nur 2 “Willi-Kursen” auf 8 unterschiedliche Pelikan-Kurse plus 3 verschiedene Wochenendseminare und einen über 2 Semester laufenden Musiktheoriekurs erweitert, weil mir diese Gitarrenlehrer-Tätigkeit an der VHS Duisburg mit der Zeit immer mehr ans Herz gewachsen war, bis das Ganze am 13. März 2020 schließlich durch die COVID-19-bedingte deutschlandweite Schließung der Volkshochschulen ein unerwartetes Ende für mich fand (weil ich eigentlich noch vier Jahre hatte weitermachen wollen), da ich (a) meine Ängste vor einer Ansteckung nicht genügend in den Griff bekam und (b) die allgemeinen Umstände (z. B. keine normale große Tafel mehr und so) in den letzten Jahren sowieso immer schwieriger geworden waren und (c) die neuen Corona-Auflagen für meine Kurse auch kein normales Arbeiten auf altgewohntem Niveau mehr möglich machten. Also habe ich aufgehört, als es “am schönsten” war. Und im Rentenalter bin ich ja ohnehin schon gewesen.]


Musik (3)

In den 1980er Jahren hat es außer einer Eschhaus-Heiligabend-Session nur noch einen weiteren Auftritt mit Willi zusammen gegeben, der dafür aber um so schöner war. Im August 1988 feierte ich mein erstes großes Bühnenjubiläum [dessen beste Momente auf der 2010 erschienenen CD “Showtime in Neumühl” festgehalten sind] mit der alten Pelikan-Band “Scarabäus Zubiss”, meinen damals aktuellen “Hollywood Rats” und den extra für diesen Jubiläums-Anlaß noch einmal zusammengestellten “Duisburg City Rock ‘n’ Roll All Stars” mit den beiden Leadgitarristen Sternhagel und Willi Kissmer. Und auch wenn Willi damals seit Jahren schon nicht mehr in einer Band gespielt hatte, hatte er das Gitarrespielen nicht verlernt, wie das nachfolgende kleine Klangbeispiel von diesem Abend belegen dürfte.


Willi Kissmer on lead guitar: 

Eine bestimmte Sache bei diesem Auftritt werde ich nie vergessen: Willi sollte das Solo bei “Under My Thumb” spielen, und weil dessen Länge nicht vorgegeben war, sollte er mich ansehen, wenn er damit zu Ende war, weil wir danach sogleich in den Refrain wechseln wollten. Also, Willi begann sein Solo … und blickte in meine Richtung und stierte die ganze Spielzeit über genau durch mich hindurch (dieser stiere Blick war sein typischer Ausdruck von Konzentration beim Leadgitarrespielen), so daß ich leider überhaupt nicht wußte, ob und wann er mir nun das vereinbarte Blickkontaktsignal gab. Den Einstieg in den Refrain haben wir dann [wie auf der CD deutlich zu hören ist] auch fröhlich gemeinsam versemmelt, was aber gar nicht groß gestört hat, weil der Rest der Nummer wirklich gut gewesen ist [wie die anderen Songs auf der CD – trotz kleiner, der Stimmung aber keinerlei Abbruch tuenden Fehler hie und da – übrigens auch].

1990 war auf der Lotharstraße in Duisburg ein neues Kneipen-Café namens Steinbruch eröffnet worden, das in seiner Anfangszeit dermaßen schlecht lief, daß der Pächter eines Tages den Schlagzeuger Lucky Ruhnau fragte, ob der dort nicht mal mit ein paar Leuten zusammen Musik machen könne, um den Laden etwas bekannter zu machen. Und weil Lucky damals gerade keine Band hatte, trommelte er einfach ein paar seiner Lieblingsmusiker zusammen, und so kam es im Mai 1990 im Steinbruch zum ersten Auftritt der “Galaktischen Giganten”, die bei ihrem Debut aus sieben Leuten bestanden, von denen vier Gitarre spielten: Greg Henley, Holger Karen, Willi Kissmer und Pelikan. Diese Session-Band [deren Maxime (zu meinem Leidwesen) lautete, auf keinen Fall vor einem Auftritt zu proben] blieb dann tatsächlich bis 1998 in immer wieder leicht variierenden Besetzungen zusammen und spielte 2016 schließlich noch einmal [diesmal aber mit vorheriger Probe: hurra!] groß beim Lucky-Day-Festival im Grammatikoff auf – was leider das letzte Mal gewesen ist, daß ich mit Willi zusammen auf einer Bühne gestanden habe. Damals war bei ihm schon Krebs festgestellt worden, doch als ich ihn ein Jahr später noch mal in seinem Turm besuchte, schien es ihm noch ganz gut zu gehen. Er machte allerdings (auch in den noch folgenden Telefonaten) immer wieder mal Andeutungen darüber, daß seine Zeit wohl nicht mehr ewig währen würde.
…..Zwei Tage vor seinem Tod hätte ich ihn mit meinem Freund Otz zusammen noch mal im Hospiz besuchen können, doch hatte ich einfach zuviel Angst davor und mich deshalb nicht getraut. Otz erzählte mir später, daß das vielleicht auch ganz gut so gewesen sei, weil diese nur noch sterbliche Hülle eines Menschen nicht mehr viel mit dem Willi, wie wir ihn kannten und liebten, zu tun gehabt habe.

Und zum Schluß noch eine kleine Anekdote: Als ich in den 90er Jahren mal bei Willi zum Schachspielen war, klingelte das Telefon und Willi nahm ab:
…..“Kissmer.”
…..Jemand wollte in Erfahrung bringen, wie teuer seine Bilder seien.
…..Willi: “Ab 5000 DM aufwärts.”
…..Und drei, vier Sekunden später fragte Willi: “Hallo? Sind Sie noch dran?”
Und ich werde niemals Willis Gesichtsausdruck dabei vergessen, der am besten als eine Mischung aus leicht überrascht und spitzbübisch amüsiert wiedergegeben werden kann, während ich dabeigesessen habe und ziemlich stolz darauf gewesen bin, einen Künstler, dessen Bilder ab 5000 DM [einer Summe, die fast der Hälfte meines damaligen Jahresgehalts als Gitarrenlehrer entsprach] aufwärts gehandelt wurden, nicht nur persönlich zu kennen, sondern sogar als Freund bezeichnen zu dürfen.

Am heutigen 24. Dezember wäre Willi Kissmer 67 Jahre alt geworden.

 

Nachtrag, 6 Jahre später:

Im Oktober 2024 habe ich aus einer E-Mail eines (mir bis dahin unbekannten) alten Freundes von Willi erfahren, daß auch Beate mittlerweile nicht mehr am Leben ist. Bei meiner anschließenden Recherche stieß ich dann auf diese Internet-Info:

https://trauer-in-nrw.de/traueranzeige/beate-droste

Und weil ich in den nachfolgenden Tagen viel an Beate hatte denken müssen, habe ich auch mal wieder einen Blick in meine Erinnerungen an Willi geworfen – und rasch beschlossen, den gesamten Text noch einmal durchzusehen, um ihn nicht nur komplett zu überarbeiten, sondern auch noch um ein paar zusätzliche Anmerkungen, Beate betreffend, zu ergänzen.

Und weil ich dabei auch mal einen bestimmten Song für Beate erwähnte, kam mir schließlich noch der Gedanke, diesen doch eigentlich auch noch als Hörbeispiel hier anhängen zu können.

Also: „Words for the Sun“, geschrieben für/über Beate Droste (1956-2023), mitgeschnitten in „Bob’s Stage“ am 13. Mai 1977.

 

Das Lied für Beate:


PS: Und im vergangenen Monat habe ich mir auch noch den (Vor-Karl-May-)Abenteuerroman „Die Flußpiraten des Mississippi“ zugelegt.